A donde vas? Showdown

Onze de La noche a Santiago de Compostela or: the show

Zu diesem Foto gibt es eine Geschichte, die ich gerade unbedingt aufschreiben musste und eine Playlist. Aber die steht in der Geschichte…

A donde vas? 

Abendgesellschaft flaniert am Tisch vor der kleinen Bodega vorbei. Stadttouristen und, auf welche Art und Weise auch immer, angekommene Pilger. Die einen in Ausgehkleidung, die anderen in funktionaler Stadtausrüstung. Man weiss ja, dass es in Galzien immer regnet.

Einigen Menschen fällt mein Gegenüber am Tisch auf. Sie mustern ihn kritisch abschätzend im Vorbeigehen. Ist er ein freakiger Tourist, der schon länger unterwegs ist, oder einfach nur ein Landstreicher?

Was macht den Unterschied? Hat er nicht auch die Wahl, das Leben, das er führt, aufzugeben? In ein anderes zu schlüpfen?

Viele von denen, die ihn jetzt von oben bis unten abschätzig mustern, arbeiten bestimmt hart dafür, um sich für ein paar Wochen im Jahr, oder vielleicht auch nur einmal im Leben, so fühlen zu können, wie er. Frei und ungebunden, ohne zu wissen, in welchem Ort oder in welcher Herberge sie an diesem Abend unterkommen werden. Vielleicht haben einige auch schon den ganzen Weg im Voraus gebucht. Zusammen mit einem Führer, einer Wandergruppe.

Vielleicht schlafen manche jede Nacht in einem Fünf-Sterne-Parador und laufen tagsüber nur die wirklich schönen, die fototauglichen, Strecken mit ihrem ultraleichten Tagesrucksack auf dem Rücken.
Er hat riesige, dick abgepolsterte schwarze, Kopfhörer über den Ohren als er mich anspricht.
Er sei seit zwei Jahren auf dem Camino unterwegs.

Camino, so nennen viele den Jakobsweg. Die berühmte 800 Kilometer lange Pilgerstrecke durch Nordspanien, die bis nach Santiago de Compostela führt.

Also seit zwei Jahren obdachlos, übersetze ich sofort für mich.

Ob ich ihn zu einem Tee einladen würde?

Wo er denn heute herkommen würde?  Ein bisschen herumgeschlurft sei er. Just shuffling around. Ob es wichtig sei, wieviele Kilometer einer am Tag laufen würde?

Ich gebe ihm einen 10 Euro-Schein, damit er mich einladen kann. Zu einem Glas Rotwein.

Wir laufen zusammen zu einem kleinen Platz in der Rua de Franco. Dort gibt es Bodegas, wo man draußen sitzen kann. Gleich in der Nähe der Kathedrale. Da, wo die allabendliche Prozession der Spazierenden vorbeizieht.

Er packt einen akkubetriebenen Minilautsprecher aus seinem Rucksack, stellt ihn zwischen uns auf den Tisch. Er fragt mich wie ein DJ, was ich jetzt gerne hören möchte. Ich wundere mich kurz, dass er sich von Steckdosen abhängig macht.

Mir ist nach Hawai. Er lächelt, bestätigt mir, dass das eine gute Wahl sei und lässt “Down Under” von Men at Work in die Gasse klingen. “I met a strange lady, she gave me breakfast.” Australien, aber Hawai? Doch, der Rhythmus klingt bei genauem Hinhören wie Hawai , stelle ich fest. Und Australien ist ja auch unendlich weit weg.

Außerdem legt er noch Gummibälle, die an Schnüren hängen und an denen lange bunte Bänder befestigt sind, vor sich auf den Tisch. Das Stück ist vorbei. Was ich jetzt hören wolle? ” Da Da Da” von Trio erwidere ich spontan. Er überlegt etwas länger, grinst. Er wählt Manu Chao” Me gustas tu”. Ich freue mich darüber, tanze auf meinem Stuhl sitzend mit.

Er steht unvermittelt auf, stellt sich in den Fluss der Passanten, und wirbelt mit geschlossenen Augen wie ein Besessener mit seinen Bällen, die an den Schnüren hängen. Die Bänder zeichnen bunte Schlieren um ihn herum, bilden immer neue Silhouetten, schaffen Distanz.

Am Nebentisch hinter ihm wippen zwei Briten mit der Musik aus dem Lautsprecher mit. “Good music, but perhaps a little bit loud” sagen sie über den Tisch hinweg zu mir. Ich zucke mit den Achseln und lächle sie an, was sie zu einem unkontrollierten Lachen veranlasst. Ich verstehe nicht weshalb. Habe ich unangemessen reagiert?

Santiago de Compostela.

Endstation des berühmten Jakobswegs durch Nordspanien.

Ich bin dann mal weg.

Ich bin dann mal angekommen.

Ich komme nicht mehr weg.

Ich komme nicht mehr auf den Weg.

Cristian kommt aus seiner Selbstversunkenheit an den Tisch zurück. Er holt seine Gitarre aus einer Hülle, die an seinem Rucksack befestigt ist. Spielt und singt. Ob er das hier dürfe, frage ich ihn.

“If somebody has something against me, he has to call the police” bekomme ich zur Antwort.

Der Brite am Nebentsch, der sich schon die ganze Zeit nach ihm umdreht, traut sich endlich und fragt, ob er die Gitarre bekommen könne. Er hätte seit Jahren nicht mehr gespielt. Und als er “Starway to Heaven” anspielt und dabei laut zu singen anfängt, liegt in seiner Stimme soviel Gefühl, dass mir fast das Herz zerspringt.
Das ist Santiago, denke ich. Da liegen die Emotionen ganz dicht unter der Oberfläche.
Dann lässt Cristian Youssou N`Dours “Seven Seconds” laufen. Vielleicht ein bisschen zu laut. Die Briten am Nebentisch bestellen noch ein Bier. Ich halte den Kellner an, möchte auch noch zwei Gläser Rotwein bestellen. Nein, wir könnten nichts mehr bestellen, nur noch bezahlen.

Die elegante spanische Art, uns beizubringen, dass wir unerwünscht sind.

Wir ziehen weiter. Über die Praza Obradoira die an einem Nebenausgang der Kathedrale liegt, klingt in den abgeschlossenen Platz sehnsüchtiger Bluesgesang zu Gitarrenbegleitung.

Ein amerikanischer Tourist sitzt mit seiner Gitarre auf dem Sims an dem Gebäude, das der Kathedrale gegenüber liegt. Junge Frauen sitzen um ihn herum, sie reden laut in ihrem unverkennbar amerikanischen Akzent miteinander, sie Filmen ihn, machen Handyfotos und applaudieren. It’s so romantic.

Erst denke ich an einen Kollegen Cristians. Von weitem sehen die beiden ähnlich aus. Der Amerikaner ist dunkelblond, hat sogar fast den gleichen Bart wie Cristian, einen Hipsterbart. Sein Gesicht ist ebenfalls schmal und braungebrannt. Wahrscheinlich ist er eine gewisse Strecke nach Santiago gelaufen. Aber er hat keinen Rucksack dabei und seine Bermudashorts sind eindeutig teure Markenausrüstung, noch nicht sehr alt, sein dunkelblaues T-Shirt liegt geschmeidig und stylisch an seinem muskulösen Oberkörper.

Cristian legt sich mit seinen Habseligkeiten auf den Boden des Platzes, hört zu. Ihm sei die gute Akustik hier noch nie aufgefallen.
Es ist weit nach Mitternacht. Wir finden noch einen offenen Laden in der Altstadt.

An den Tischen vor der Bar sitzt lachend internationales Publikum.

Camino beendet, jetzt wird gefeiert. What a Great Journey!

Ich setze mich alleine an einen freien Tisch, werde sofort bedient, bestelle zwei Gläser Rotwein.

Währenddessen kauert Cristian sich auf die Treppenstufen eines dunklen Hauseingangs. Ich bezahle sofort, als die Gläser kommen. Erst danach setzt Cristian sich zu mir an den Tisch.

Der Wirt würde ihn kennen. Was das bedeutet, frage ich nicht.

Er zieht die Ärmel seines viel zu großen Wollpullovers lang über die abgewetzten Manschetten seines dunkelblauen karierten Hemdes. Zieht noch eine weitere lange Hose an. Wahrscheinlich, damit er nicht so mager aussieht. Es wirkt auf mich, als ob er sich fein machen würde.

Ich stoße mit ihm an.

Er schaut mich mit seinen dunklen Augen an. Seine Kopfhörer umschließen wieder sein Gesicht.
Did you Enjoy the Show? fragt er.
Ja, denke ich ganz leise.

The Show. Das ist Santiago.
Er sagt: it’s just me. I am acting like me. I cannot say more.
It’s very difficult being a pilgrim, sagt er nach einer langen Pause.
Wem er gleichen würde? Ich denke an den Tanz seiner Bänder und antworte mit Don Quichotte de La Mancha. Er kennt ihn nicht. Na, der Mann der mit Windmühlen kämpft, erkläre ich.

Er schaut mich ernst an. Nein, er sei noch viel verrückter als der.

Dann reicht er mir seine riesigen Kopfhörer, drückt sie mir auf die Ohren: Bob Marley- “I Shot the Sheriff” höre ich. Und ich kriege kurz Bedenken ob der Läuse und Wanzen, die in seinen Haaren leben könnten. “But i did Not shoot the deputy”.

So, you don’t Know where i can find a warm bed? Fragt er mich. Ich verneine. Should i go to jail this Night?

I cannot take you with me, sage ich.

Abrupt stehe ich auf, drücke ihm noch einen 20 Euro – Schein in die Hand, für ein warmes Bett oder ein kleines Gelage mit seinen Freunden. Es ist mir egal, welche Tiere er vielleicht beherbergt, ich muss ihn umarmen, ihn fest an mich drücken, ihm alles Gute auf seinen Camino wünschen.

I Hope you could understand why i live like that, sagt er.

Ich laufe weg ohne mich umzudrehen, den Blick fest auf die bronzenen stilisierten Muschelsymbole gerichtet, die in das Straßenpflaster eingelassen sind. Ich laufe den offizielle Pilgerweg in umgekehrter Richtung. Laufe ihn bis zur Praza Cervantes, wo ich in eine Seitengasse abbiege, in Richtung meiner Pension. Und zu meinem warmen Bett.
Ankommen. Eine Nacht im Mai 2016. Damals kam ich über den Englischen Weg, den Camino Inglès,  von Ferrol aus in Santiago an.

Nach Capo d‘Orlando wollte ich nie

Zugfahren in Italien hat schon seinen eigenen Reiz. Es ist zwar im Verhältnis zu Deutschland sehr günstig, kann aber auch sehr chaotisch werden.

Gerade sitze ich am unromantischen Bahnhof von Capo d‘Orlando. Eine Stunde ungeplanter Aufenthalt bis 11.35 Uhr.  Nicht etwa, wegen „in ritardo”, der üblichen Verspätung, sondern, weil ich schlicht in die falsche Richtung gefahren bin. In Richtung Messina anstatt in Richtung Palermo.

 Bahnhof von Capo d’Orlando 

Wie kann so etwas passieren? Die Anzeigen sind auch in Italien elektronisch und die Bahnsteige ausgeschildert. Ganz einfach; es ist mal wieder ein Zug verspätet angekommen und steht dann auf dem falschen Gleis. Es folgen Durchsagen, erst  auf Italienisch dann noch auf Englisch, die akustisch absolut nicht zu verstehen sind. Ich bin also in Cefalú einfach am Gleis 1 in den Zug eingestiegen, der am Gleis stand. Ohne jemanden zu fragen. In meine Zug, wie ich dachte, der um 09.10 Uhr am Binario 1 nach Palermo abfahren sollte. Die Abfahrt verzögerterte sich, wie immer. Ich dachte mir nichts dabei, studierte den Reiseführer von Palermo. Bei meinem letzten Besuch im Januar habe ich die Stadt bereits sehr gut kennengelernt.

Schon in Catania hatte ich bei der Weiterfahrt nach Messina ein gewisses Chaosgefühl am Bahnhof. Ich stand eine halbe Stunde vor Abfahrt an Gleis 9, dem Gleis von dem mein Zug abfahren sollte. 20 Minuten vor Abfahrt eine Durchsage: “der Zug aus XY, der auf Gleis 10 einfahren sollte, fährt nun auf Gleis 9 ein.” Auf meinem Abfahrtsgleis  wird von einer gelben Lock ein offensichtlich defekter Zug eingeschleppt. Die Fahrgäste strömen auf den Bahnsteig, diskutieren. Es heißt, dass ein anderer Zug kommen soll, in den sie umsteigen sollen. Ich bin irritiert- weshalb kommt keine Durchsage, wo mein Zug nun abfahren soll? Dieses Gleis ist schließlich besetzt. Die elektronische Anzeige ändert sich nicht, aber es kommt auch keine Durchsage, dass der Zug Richtung Messina gleich abfährt – und wie ein Intercity, den ich laut meiner Fahrkarte gebucht habe, sieht der Zug auf keinen Fall aus.

Zwei Minuten vor der geplanten Abfahrt läuft zum Glück ein Schaffner vorbei. Ich frage ihn, wo der Zug nach Messina denn nun eigentlich abfährt. Da deutet er auf den alten Zug auf Gleis 9. Da Vero? Wirklich? Frage ich ungläubig – in diesen Zug wäre ich nie im Leben eingestiegen. Natürlich fahren wir auch erst 15 Minuten später ab, aber immerhin fahren wir.

Aussicht auf’s Meer durch das Zugfenster 

Palermo ist mit dem Zug nur eine knappe Stunde von Cefalú entfernt. Das Wetter ist herrlich und so wollte ich dieser wunderschönen Stadt wieder einen Besuch abstatten. Vielleicht sogar bei dem Koch vorbeischauen, den ich im Januar kenngelernt habe. Im Rückblick hätte mir natürlich sofort auffallen müssen, dass das Meer vom Zug aus auf der falschen Seite blau schimmert, aber im Geist bin ich bereits vom Bahnhof aus die Via Maqueda entlang gelaufen, an der schönen Piazza Pretoria und den Quattro Canti vorbei, den Corso Vittorio Emmanuele hoch zum Palazzo dei Normanni und dann weiter zu den Catacombe dei Capuccini. Den Rest des Tages wollte ich unverplant lassen, einfach bummeln, in der Nähe des Hafens etwas essen, vielleicht einen Wein trinken, schließlich muss ich heute nicht Autofahren. Diesen Besuch werde ich jetzt aber tatsächlich auf ein anderes Mal  verschieben müssen. Dafür habe ich jetzt Capo d‘Orlando gesehen.

In der Innenstadt von Capo d’Orlando 

Die Ansage von San Agata habe ich unterwegs noch mit halbem Ohr gehört, mir kam der Name seltsam bekannt vor. Nach einer Stunde Zugfahrt, der Zug blieb auch ständig aus unerfindlichen Gründen auf der Strecke stehen, wurde ich jedoch etwas unruhig, mir kam es seltsam vor, dass wir noch nicht in Palermo waren. Die Durchsage sprach von nur noch 5 Minuten Verspätung. Um Akku zu sparen, hatte ich mein Handy auf Flugmodus geschaltet. Leider gibt es in den italienischen Zügen keine Steckdosen, eine Powerbank ist also meine nächste Anschaffung. Als als nächster Halt Capo d‘Orlando angekündigt wurde – Capo d‘ Orlando? Das liegt doch in der Nähe von Milazzo? – habe ich mich über Google geortet. Tatsächlich, ich bin in der falschen Richtung unterwegs. Also bin ich ausgestiegen, hoffte, direkt in Richtung Palermo zurückfahren zu können. Aber der nächste Zug ging erst nach über einer Stunde. Okay, dann bin ich eben hier. Irgendwann habe ich mir abgewöhnt, zu glauben, dass es mir in diesem Moment an einem anderen Ort besser gehen würde. Vom Bahnhof aus bin ich schnurgerade vor zum Meer, zum Lungomare gelaufen. Die Suche nach einem offenen Café mit Sitzgelegenheit in der Sonne verlief erfolglos. Das Elend eines Sommerurlaubsorts im Winter. Die Häuser an der Strandpromenade verbarrikadiert, alles leer und verlassen. Wie trist es jetzt schon bei Sonnenlicht aussieht, wie deprimierend muss es hier erst im Regen sein. Alte Männer sitzen versonnen auf‘s Meer schauend vereinzelt auf Bänken, Walkerinnen überholen mich.

Lungomare von Capo d’0rlando 

Der Ort war schnell erkundet – quasi alle Geschäfte für den schnellen Hunger zwischendurch, Foccacerien und Take-Aways, geschlossen. Wozu auch? In einer Macelleria holte ich mir bei einem unwahrscheinlich unfreundlichen Menschen ein belegtes Panino und als Wechselgeld zwei 500 Lirestücke, die ich jedoch beim Wegstecken in die Hosentasche als Zweieurostücke deutete.

Ich finde keine schöne Bar, schon gar keine, vor der ich in der Sonne sitzen könnte und  so gehe ich zurück zum Bahnhof. Hole mir einen Capucchino aus dem Bahnhofskiosk, wo die Männer an Geldspielautomaten sitzen oder auf ihren Handys spielen und warte immerhin in der Sonne am Bahnsteig auf den Zug nach Palermo. In Cefalú würde ich wieder aussteigen, denn ich wäre frühestens viertel nach zwei in Palermo. Da die Sonne aber bereits viertel vor fünf untergeht, ist mir das für einen Tagesausflug zu kurz. Beim Bezahlen des Capucchinos gibt mir der Kellner die eine Münze, die ich aus der Hosentasche fische, zurück: deshalb waren die beiden Geldmünzen also so leicht.Bevor ich auf die Idee kam, sie zu fotografieren, hatte ich die andere Münze leider schon im Sand versenkt. Die hier behalte ich als Glücksbringer 🍀

Planänderung: die paar Stunden, die mir heute Nachmittag verbleiben, bin ich eben eine “vera Tedesca” : ich lege mich bei 18 Grad Lufttemperatur an den Strand und springe bestimmt auch noch ins Wasser.

Das Meer ist immer noch angenehm warm 

Glück im Unglück: ohne diesen Ausflug gäbe es keinen neuen BLOGPOST. Denn den  habe ich auf der Rückfahrt nach Cefalú geschrieben.😊

Am Strand von Cefalù – wolkenlos blauer Himmel heute 

Auf eine Carbonara in Milazzo

Meine ersten italienischen Worte habe ich im Urlaub an der Adria gelernt: “Un gelato, prego!” Ein essentiell wichtiger Satz für eine Fünfjährige.

Mein Vater hat uns drei Kindern sofort nach der Ankuft am Urlaubsort ein paar  100 Lire Münzen in die Hand gedrückt. Offiziell wollte er unseres Selbständigkeit fördern, aber wahrscheinlich haben wir unsere Eltern nur beim Einräumen gestört. Jedes Jahr ging es im vollbepackten Auto nach Italien und jedes Jahr lief nach der Ankunft das gleiche Drama ab: das Appartement entsprach nicht den Fotos im Prospekt, irgendetwas war immer kaputt und meine Mutter hat unter Tränen erstmal die gesamte Wohnung geputzt. Mit mitgebrachtem Putzmittel natürlich. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte wurden es letztendlich immer wunderbare Ferien – und im Jahr darauf ging’s im  Urlaub natürlich wieder nach Italien.

Es müssen allerdings noch ein paar Worte mehr gewesen sein, die ich damals gelernt habe. Ich erinnere mich an Diaabende, bei denen es von diesem ersten Urlaub Fotos von mir am Strand, zusammen mit einem Ehepaar aus Turin, zu sehen gab. Ausgerüstet mit einer Schaufel und einem  roten Eimer strahle ich zwischen den Beiden in die Kamera. Zu dritt waren wir den ganzen Urlaub über immer wieder stundenlang unterwegs – meistens haben wir Miesmuscheln an den Felsen abgekratzt. Und ich erinnere mich noch genau: ich habe die Muscheln auch roh probiert. Sie müssen mir etwas Italienisch beigebracht haben – mit meinen Eltern sprachen sie jedenfalls Englisch. Im Kindergarten haben wir damals gelernt, wie wir uns Schuhe zubinden, aber Englisch noch nicht. Meine Eltern fuhren wahrscheinlich auch deshalb so gerne in den Urlaub nach Italien, weil sie sich am Strand nicht um uns kümmern mussten: irgendeine benachbarte kinderreiche italienische Familien hat uns sofort adoptiert. Die haben dann selbstverständlich auf uns aufgepasst.

Weshalb ich heute daran denke? Gerade bin ich zum ersten Mal dabei, „richtig” Italienisch zu lernen. Das hessische Bildungsurlaubsgesetz (so ein Wort kann es nur in Deutschland geben ☺️) macht es möglich, dass ich dieses Jahr zwei Wochen bezahlten Urlaub an einer Sprachschule machen kann. Chiara, die Lehrerin, bei der ich nachmittags Einzelunterricht habe, vermutet, dass ich wegen meines guten Akzents wohl bereits sehr früh Italienisch gesprochen haben muss. Da habe ich ihr von diesen ersten Urlauben und auch von den letzten zusammen mit den Eltern in Italien erzählt. Ganz gegen die Gewohnheit meiner Eltern immer andere Orte anzusteuern, haben wir drei Jahre hintereinander den gesamten August im Haus eines italienischen Freundes im Cilento verbracht. Damals war das noch Abenteuer pur. 18 Stunden waren wir im Auto zu dem kleinen Urlaubsort unterwegs, der vor allem bei Familien aus dem nahen Neapel beliebt war. Als grünäugige Fünfzehjährige mit langen dunkelblonden Haaren musste ich mir schnell einen gewissen Wortschatz zulegen, um den neapolitanischen Jungs auf ihren Vespas Paroli geben zu können. Aber auch als  meine Haare auf Kinnlänge gekürzt waren, tat das dem Erfolg auf der Passegiata, dem abendliche Spaziergang am Lungomare, keinen Abbruch. Meine neapolitanischen Freundinnen haben sich daraufhin sogar spontan ebenfalls die Haare abgeschnitten. (Ja, richtig gelesen: sie haben sich gegenseitig mit einer Haushaltsschere die Haare abgeschnitten😎).

In der Schule habe ich ganz klassisch Latein, Französich und so später Englisch gelernt. Aber Italienisch? In einen Kurs zu gehen hat für mich nie zu dieser Sprache gepasst. Das Selbststudium aus Büchern habe ich versucht, aber entnervt wieder abgebrochen. Italienisch ist doch keine Sprache, die man paukt sondern viel mehr  ein  Lebensgefühl!

Durch die Kombination mit Latein und Französisch kann ich fast jeden Text verstehen und irgendwie hat sich über die Jahre auch das Hörverständniss erhalten. Seit ein paar Jahren zieht es mich auch wieder regelmäßig nach Italien. Ich rede mit jedem ohne jegliche Fesseln von Grammatikregeln, „all intuito”, intuitiv also. Notfalls auch mit Händen und Füßen. So wie ich es mir abgehört habe. Bei meinem letzten Venedigbesuch habe ich allerdings kleine Stiche gespürt, als mir ständig auf englisch geantwortet wurde.

Jetzt drücke ich also in Milazzo noch einmal für zwei Wochen die Schulbank. Italienisch auf Sizilien. Jetzt wird der eine oder andere sagen: da sprechen Sie doch überhaupt kein richtiges Italienisch. Doch, sie sprechen Italienisch, aber die Alten eben auch noch Sizilianisch. Und ich weiß nicht weshalb, ich mag die Menschen in Süditalien einfach sehr. Wenn einer Neapolitanisch spricht, geht mir das Herz auf. Mir kommen die Menschen irgendwie kommunikativer, eine Spur herzlicher und vor allem liebenswert eigensinnig vor. Im Süden, so ungefähr ab Neapel, fühle ich mich richtig wohl.

Wir sind in einer Schüler-WG, die sich im selben Haus wie die Sprachschule Laboling befindet, untergebracht. Außer mir wohnen noch ein weiterer Deutscher, ein Österreicher, ein Russe, ein Ire und eine Japanerin hier. Umgangssprache ist natürlich Italienisch:

Wer weiß, was da sonst noch so auf dem Post-It steht. Grazie Mille an Rie. 

Im November besuchen vor allem Teilnehmer die Sprachkurse, die Studium und Schule längst hinter sich gebracht haben. Mit Axel, meinem österreichischen Mitschüler, habe ich unlängst darüber gelacht, dass wir wahrscheinlich eine Art Senioren-Unterricht bekommen. Weshalb können wir uns eigentlich nicht merken, dass für „in + Stadt” im Italienischen immer „a” genommen wird, und wie war das, wann benutzt man  Imperfetto und wann Passato Prossimo🙈?

In unserem Appartement gibt es eine zweckmäßige Gemeinschaftsküche. Jeder kocht meistens für sich alleine. Die Speisen, die wir zubereiten, verraten unsere Herkunftsländer: Rie macht sich dünne Suppen, viel Fisch, allerdings nicht roh, sondern in der Pfanne gebraten und das dann mit Unmengen an Knoblauch. Daniel aus Irland dagegen, köchelt sich braunes Stew zusammen, das er sich dann notfalls auch kalt auf’s Panino schmiert. Gestern war ich zusammen mit Rie zum Einkaufen von Vino Sfuso unterwegs. Vino Sfuso ist offener Wein, den man vor dem Kauf verköstigen kann. In einem kleinen Lebensmittelladen sind wir schließlich fündig geworden. Beim Blick in die Theke kam ich auf die Idee, für uns beide Carbonara zu kochen. Der Guancale, Speck aus der Schweinebacke, lag einfach zu verlockend in der Auslage. Die restlichen Zutaten gab‘s dort natürlich auch. Und auch einen Liter Nero d’Avola, sizilianischen Rotwein, abgefüllt in einer Plastikflasche. 

Bei Signore Montalbano gibt es alle Köstlichkeiten Siziliens. 

Carbonara ist ein supereinfaches, ganz schnelles Rezept – genau richtig für ein Abendessen nach einem anstrengenden Tag in der Schule oder wonach auch sonst immer.

Eine gute Carbonara ist selbst in Italien im Restaurant schwer zu finden. Denn: una buona carbonara si fa a casa: gute Carbonara macht man zuhause.

Deshalb verewige ich das Rezept jetzt auf meinem Blog- es kommt schließlich nicht auf das Ambiente der Küche an: schmecken muss es!
Rie hat die Zubereitung ebenfalls fotografisch festgehalten. Dann die Frage aller Fragen: „ E quando metti la panna?” Wann machst du die Sahne hin? Sie konnte nicht glauben, dass man für eine Carbonara weder Milch noch Sahne benötigt. In Osaka gibt es, wie überall auf der Welt beim Italiener: „Spaghetti Carbonara”, und das heißt, wie eben auch fast überall auf der Welt: Spaghetti mit Sahnesoße und gekochtem Schinken. Aber das ist keine Carbonara 🇮🇹!

Das ist Carbonara 😎


Zutaten für zwei Personen:

(Zeitaufwand: keine 15 Minuten)

  • 120 Gramm Guanciale alternativ Pancetta oder durchwachsenen Speck
  • 120 Gramm frisch geriebenen Guan Cavallo alternativ Provola, Pecorino oder:  halb und halb Pecorino und Parmesan (bitte nicht aus der Tüte im Kühlregal)
  • 2 Eier
  • 250 Gramm Spaghetti oder andere Nudeln – in meinem Fall Casarecce (ausgerechnet in diesem Laden waren die Spaghetti gerade ausverkauft)

Gewürze

  • Salz
  • Ein Esslöffel Olivenöl
  • Schwarzer Pfeffer

Zubereitung:

Gesalzenes Wasser zum Kochen bringen, die Nudeln hineingeben. Angegebene Kochzeit minus zwei Minuten kochen lassen.

Währenddessen: das Fleisch in dünne Stücke schneiden und in einer Pfanne mit dem Olivenöl gut anbraten

Die Eier mit dem geriebenen Käse in einer Schüssel vermengen, gut vermischen, eventuell eine Prise Salz dazugeben.

Die Nudeln etwa zwei Minuten vor der angegebenen Kochzeit vom Herd nehmen und abseihen – in die Pfanne geben –  die Eikäsemasse dazu geben und für circa 2 – 3 Minuten gut durchrühren, dabei die Pfanne auf dem Herd lassen.

Dadurch gerinnt das Ei, der Käse schmilzt und das Ganze umschließt die Nudeln mit einer feinen, leicht körnigen cremigen Schicht. Nach Geschmack noch schwarzen Pfeffer darüber streuen.

Arianna, meine andere Italienischlehrerin, hat mir bestätigt, dass das eine “vera Carbonara” ist. Ihre Großmutter schmelzt noch eine Gemüsezwiebel zusammen mit dem Fleich. Diese Variante werde ich aber erst noch ausprobieren.

Non dimenticare: una buona carbonara si fa a casa. 

Buon Appetito!

3 Tage Auszeit vom Winter – Sizilien im Januar 2017

Kein Wunder, dass hinter mir sofort gehupt wird. Das Ampelsignal springt direkt von rot auf grün: ich bin überrumpelt, schließlich bin ich aus Deutschland eine gelbe Vorbereitungsphase zum Anfahren an der Ampel gewohnt.
Gut, dass es Nacht ist. Bei dem wenigen Verkehr werde ich in meinem kleinen weißen Smart nicht zum Verkehrshinderniss. Das Auto habe ich nach der Landung gerade am Flughafen übernommen. 20 Kilometer lang habe ich nun auf dem Weg nach Trapani Gelegenheit, mich an den sizilianischen Fahrstil zu gewöhnen.

3 Tage Sizilien. Im Januar. Verheißung frühlingshafter Temperaturen, während in Frankfurt Minusgrade herrschen und Eisschollen auf dem Main treiben. 

Mal kurz nach Sizilien zu fliegen, auf diese Idee kann man nur mit einem Billigflieger vor der Haustür kommen.  Und was hält einen zurück, wenn man gerade frei hat und der einfache Flug von Frankfurt-Hahn aus nicht einmal 20 Euro kostet? Mit Handgepäck versteht sich. Aber was braucht man denn schon für drei Tage? Meine Wanderschuhe, Jeans, einen dicken Wollpullover und eine Daunenjacke habe ich an. Hohe Stiefel, einen Rock, ein Kleid, eine Bluse, eine Strickjacke und Socken, Strumpfhosen und Unterwäsche, zwei bunte Halstücher kommen noch mit in den Rucksack. Das wiegt zusammen gerade mal 5 Kilogramm. Einen Reiseführer habe ich noch schnell am Flughafen gekauft, meine Tickets sind im Handy eingespeichert und dann habe ich natürlich meinen Fotoapparat mit dabei. 

Als ich im Dunklen in Trapani lande, regnet es. Aber der Geruch des warmen Tages hängt noch in der Luft. 

Mild und feucht schmeckt die meersalzgeschwängerte Luft, die beim Fahren durch das geöffnete Autofenster hereinströmt. Die sizilianischstämmigen Deutschen, die ich beim Abholen des Autos am Schalter kennenlerne, sind ganz perplex, dass ich mir alleine ein Auto gemietet habe und damit Sizilien erkunden  will. Sie selbst hätten einen Heidenrespekt vor dem Verkehr auf der Insel. Chaotisch sei er, keinen Regeln gehorchend. Ganz anders als daheim. Mal abwarten, das Auto ist Vollkasko versichert. 

Alles richtig gemacht, denke ich mir später, als ich nach der Ankuft im Hotel zu einer ersten Erkundung der Gegend um das Hotel aufbreche. Denn nachts um elf kaufe ich mir in einer Gelateria am Hafen noch ein Eis. 

Trapani – Levanzo 

Es ist zwar noch kalt, aber die Sonne scheint, als ich tagsdarauf schon um halb acht in der Frühe aufbreche. Die Straßen in der Altstadt sind noch ausgestorben und auch später sind nur die Geschäfte geöffnet, die auch ausserhalb der Saison von den Einheimischen frequentiert werden. Ich hole mir zu wahrhaft günstigen Preisen, ein erstes Frühstück: einen Cappuccino und ein Cornetto für 1,50 Euro. Dann laufe ich ohne bestimmtes Ziel kreuz und quer durch die Gassen, besichtige die Kathedrale. Von der Corso Umberto aus, die die Stadt, die wie ein Sporn ins Meer ragt, in zwei Hälften teilt, sehe ich auf beiden Seiten immer wieder hell türkis schimmernd das Meer. Irgendwann bin ich zu neugierig auf den Ausblick, weiche von meiner geplanten Route ab, steige ein paar Stufen zwischen  zwei Häusern hoch, und gelange direkt auf den Hafenkai, der am Strand entlang führt. Dort scheint die halbe Stadt joggend unterwegs zu sein. Ich komme mit einem Arzt ins Gespräch, der vor seinem Dienst noch ein paar Runden dreht und mir unbedingt die schöne Aussicht vom Torre de Ligny aus zeigen will. Der westlichste Punkt Siziliens, oder doch zumindest Trapanis. Ein paar Häuser weiter  bleibe ich in einem unscheinbaren Laden mit köstlich belegten Paninis hängen, beobachte die ankommenden Arbeiter, die unablässig ein und aus gehen, winzige Pappbecher mit Espresso-to-go mitnehmen,  ohne Deckel natürlich,  und versuche mich in den getragenen sizilianischen Singsang einzuhören.

Winterstrand von Trapani

Mein Vorhaben, mittags mit dem Auto nach Erice hochzufahren, wird mir im Touristenbüro von einem netten älteren Herren ausgeredet. Die Lichterketten der Stadt, die sich hoch über Trapani in den Berg schmiegt, habe ich bereits nachts vom Auto aus bewundert. Da läge Schnee und die Straße mit ihren Spitzkehren sei nur etwas für Schwindelfreie. Die Seilbahn von Trapani aus nach Erice ist außer Betrieb. Das Meer sei so schön ruhig heute, er würde mir eine Fahrt auf die vorgelagerten ägidischen Inseln empfehlen. Ob ich denn gerne laufen würde? Er deutet grinsend auf meine Wanderschuhe und holt eine Karte aus einem Schuber heraus. 15 Jahre habe er auf der kleinen Insel Levanzo gelebt. Für ihn sei dies der schönste Fleck auf der ganzen Erde. Jeden Weg, jeden Stein kenne er dort. Er zeigt mir auf der Karte eine Route, die ich an einem Nachmittag laufen könnte. Ein Hauptweg führt an der Küste entlang, und außerdem gibt es eine prähistorische Höhle zu besichtigen. Wenn ich mich beeilte, könnte ich noch die nächste Fähre erwischen. Am Hafen von Levanzo bin ich dann die einzige, die aussteigt. Der kleine Ort liegt im Winterschlaf, die meisten Fensterläden sind zugeklappt und selbst die Hafenbar hat geschlossen. Sicherheitshalber schaue ich, ob und wie lange die Fähren abends nach Trapani zurückfahren. Es gibt niemanden, den ich auf der Straße nach dem Weg fragen könnte und so laufe ich aufs Geradewohl die Küste in östlicher  Richtung entlang. Biege zu einem ausgeschilderten Strand ab, der malerisch zwischen den Felsen liegt und bin bezaubert vom Anblick der sich mir von dort aus auf den ausgestorbenen Ort bietet. Zwischen Felsen und gelben Blüten schimmert das Wasser in einem Blau als würde es in Konkurrenz zur Karibik treten wollen. Und wäre das Wasser nicht wirklich eiskalt, würde ich glatt ein Bad wagen. LevanzoHafenbar LevanzoBoote im Winterschlaf (Levanzo) Nach dem Regen (Levanzo)

Später laufe ich über einen Bergrücken durch menschenleere Stille an Olivenhainen und Ruinen vorbei zurück ins Dorf und versuche von dort auf die westliche Route zu gelangen. 

Das erste Mal wird die Stille der Insel gestört – durch das Geräusch eines Zementmischers. Die Bauarbeiter, die den Weg am Meer entlang ausbessern – sie schauen mich genauso entgeistert an, wie ich sie. Bisher sind mir nur dünne Katzen maunzend durch die Straßen  hinterhergelaufen.

 Als ich nach einem Umweg durch das Dorf wieder am Küstenweg ankomme, überholt mich zu meinem Erstaunen sogar ein Auto. „Grotta  del Genovese” steht in dicken Lettern auf dem Heckfenster. Die Höhle des Genovesen, mein nächstes Ziel. Da, wo am Ende der Straße das Auto parkt, führt nun ein schmaler ausgeschilderter Pfad in die Felsen. Aber erst lasse ich mich wieder von einem Strand gegenüber der Faraglioni, gewaltiger Felsbrocken, die im Meer liegen, verführen, die Sonne zu genießen. Mein Handy zeigt 15 Grad an. Zum Glück habe ich zwei Äpfel eingesteckt und genügend  Wasser dabei. Dann folge ich dem schmalen Grat, der sich um die nächsten Felsen entlangwindet. 

Als es immer steiler wird und die Kurven waghalsiger, bemerke ich, dass es bereits fast vier Uhr ist – kurz nach fünf wird die Sonne untergehen. Da ich nicht weiß, wie weit es noch ist, drehe ich schweren Herzens um, um nicht im Halbdunkeln zurück gehen zu müssen. Pünktlich als ich den Ortsrand erreiche, geht hinter mir die Sonne unter. Andächtig staunend betrachte ich das Schauspiel. Es ist so still, ich meine ein Zischen zu hören, als die Sonne auf dem Horizont aufsetzt, noch einmal, unmerklich fast, nach oben schwingt, um dann sagenhaft schnell ins Meer abzusinken.In solchen Momenten bin ich einfach nur glücklich.  

Zurück in Trapani wird es in der Hafengegend schwer, eine offene Trattoria oder Osteria zu finden. in den kleinen Bars, die geöffnet sind, bekomme ich zwar etwas zu trinken, aber wenn, dann nur eine Kleinigkeit zu essen. Als ich die kleine Osteria endlich finde, die mir der Herr aus dem Touristenbüro empfohlen hat, ist sie bereits seit sieben Uhr abends geschlossen und so lande ich dann als einziger Gast im “Ai Lumi”, einem Restaurant, das sich in einem schönen barocken Gebäude befindet. Ich möchte etwas typisches für den Ort essen – und so bekomme ich eine köstliche Capenata, eine Gemüsevorspeise, und Cuscusu di Pesce alla Trapanese serviert. Für den Wein verlasse ich mich ebenfalls auf die Empfehlung: Grillo, ein charaktervoller trockener einheimischer Weißwein. 

Nubia – Segesta -Agrigento 

Die Tage sind kurz im Winter und so bin ich am nächsten Tag wieder entsprechend früh unterwegs. Erst fahre ich das kurze Stück in den Nebenort Nubia, beobachte in den Salzbecken Flamingos und kaufe an einem kleinen Stand bei der Saline ein paar Dosen mit dem angeblich besten Salz des Mittelmeeres. Salinen von Nubia 

Für den Rest des Tages  will ich  mich auf antike Spuren begeben.

Ruinen von Segesta

Die Ruinen von Segesta liegen erhaben in den Hängen des Monte Barbaro, auf der Autobahn keine halbe Stunde entfernt. Ein  unvollendeter Tempel mit dorischem Säulen steht ganz alleine, golden leuchtend auf einem Hochplateau. Er ist aber nicht griechisch, wievich vetmute, sondern elymnisch, wie ich in meinem Reiseführer nachlese. Die Elymner sind eines dieser Völker, die im Verlauf der Geschichte verschwunden sind und von denen ich bis dato nichts gehört habe. Nach einem gut zwanzig minütigen schweißtreibenden Aufstieg erreiche ich das Theater, das halbrund in den Felsen gehauen ist. Von seinen Bänken aus kann ich bis vor ans Meer, an den Golf von Castellamare, sehen. Was für eine Kulisse das für die Aufführung gewesen sein muss. Findige Marketingmanager müssten doch schon längst auf die Idee gekommen sein, hier im Sommer Musikveranstaltungen aufzuführen. 

Der Trampelpfad oberhalb des Theaters scheint eine direkte Verlängerung zur Autobahn zu sein, die ihr blitzendes Band durchs Tal zieht. Schön hier oben. Scheinbar uneinnehmbar geschützt. Weshalb die Stadt wohl verlassen wurde? Ein Erdbeben? Die Stadt ist terrassenartig an den Berg gebaut- vielleicht ist ja durch ein Erdbeben ein Teil der Gebäude abgerutscht, oder gab es eine Seuche?

Nach gut eineinhalb Stunden Fahrt erreiche ich mein nächstes Ziel: das Tal der Tempel bei Agrigento. Es scheinen nur Sizilianer auf den Straßen unterwegs zu sein – entsprechend schnell ist das Tempo auf der zum Teil sehr kurvigen und unübersichtlichen Strecke. 

Gut ausgeschildert liegen die archäologischen Stätten am südlichen Stadtrand von Agrigento. Im Tal der Tempel soll es einige der besterhalten Tempel der griechischen Antike zu sehen geben. Seit dem ich den Namen des Ortes das erste mal gehört habe, wollte ich dort einmal herumstreifen. Das Gebiet erstreckt sich über fast 4 Quadratkilometer. Vom Eingang am Parkplatz bis hoch zum Concordia Tempel, den ich mit hüpfendem Herzen, erhaben und schön zwischen den Bäumen bereits vom Auto aus habe aufblitzen sehen, sind es bestimmt zwei Kilometer. Es gibt von einem Hauptweg abgehend verschiedene Trampelpfade durch die Ruinen. Ungestört laufe ich von Station zu Station, lese die Beschreibungen auf den Hinweisschildern. Ich habe auch kein Zeitproblem, denn wie mir am Eingang am Parkplatz versichert wurde, werde man erst um 19 Uhr schließen. Außer den über das ganze Gelände verteilten Tempelresten beeindrucken mich die Kolosse an meisten. 12 Kolosse jeweils ursprünglich 8 Meter hoch haben einen Tempel auf ihren Schultern getragen. Entspannt klettere ich durch die alten Steine, und genieße schließlich den Sonnenuntergang am Concordiatempel am obersten Punkt des Tals.  Ein Pärchen macht schnell noch ein paar Selfies in der romantischen Kulisse, dann bin ich ganz alleine. In der neuen Stadt, die sich wie eine Betonwand gegen das Tal lehnt, gehen langsam die Lichter an. Scheinwerfer strahlen nun die steinernen Zeugen der Vergangenheit an. Da es auf dem Hauptweg keine Wegweiser gibt, suche ich im Dunklen den gleichen Weg, den ich gekommen bin, zurück. Ein bisschen unheimlich ist mir dabei schon. Der Wächter am Ausgang begrüßt mich dann freudig. Notfalls hätten sie mich gesucht, mein Auto ist schließlich das einzige, das noch auf dem Parkplatz steht.

Abends suche ich mir dann im Zentrum von Trapani nahe der Piazza Vittorio Emmanuele ein einfaches Fanilienrestaurant. Spezialität ist eine Art Kebabpizza. Echt sizilianisch versichert mir der Cameriere. Sie ist saftig und schmeckt, nach dem langen Tag an der frischen Luft, ausgezeichnet, aber ich bezweifle, dass ich sie in Deutschland als echte italienische Pizza erkannt hätte. Die Realität und unsere Vorstellungen davon, wie es woanders typischerweise sein soll, driften doch sehr auseinander. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass die bestverkaufte Tiefkühlpizza Italiens die Pizza mit Würstel ist. Und auch auf dieser Karte lese ich Pizzavariationen, die mir das Blut in den Adern gefrieren lassen: Pizza Kebab,  mit Kebab und Pommes als Belag, zum Beispiel. Aber der Laden ist rappelvoll, den Trapanesen und besonders den Familien mit Kindern schmeckt’s ganz offensichtlich. 

Die Nähe zu Nordafrika ist nicht nur am Klima, sondern auch bei vielen Gerichten spürbar –  schon am ersten Abend sind mir  Paninerias bzw. Cuscuserias aufgefallen, wo es belegte Paninis und Cuscus zum Mitnehmen gibt. Cuscus zum Mitnehmen? Entspricht bestimmt nicht der deutschen Vorstellung von italienischem Take away. 

Palermo 

Freitag morgens studiere ich die Wettervorschau in der Handyapp. Ab 10 Uhr sind in der Gegend um Trapani Sturmböen und Regen angesagt. Sizilien ist groß genug, um vielleicht an einer anderen Küste besseres Wetter zu bieten. Schließlich bin ich durch das Auto unabhängig. Zwar scheint wieder die Sonne, aber der heftige Wind kündigt einen Wetterumschwung an. Als ich unentschlossen auf der Straße vor dem Hotel stehe und überlege, ob ich es doch noch versuche, nach Erice hoch zu fahren, spricht mich wieder der Besitzer des kleinen Haushaltsladens neben dem Hotel an. Wir haben schon jeden Morgen einen kleinen Plausch gehalten. Er steht den ganzen Tag vor seinem Laden und beobachtet die Passanten und den gegenüberliegenden Hafen. Wie es bei Marilena sei? Er kenne sie seit sie ein kleines Mädchen ist, und jetzt hat sie ein Hotel. Ich kann nicht viel sagen, das Zimmer ist schön, aber leider sehr kalt, den Rest haben wir online erledigt: ich habe per E-Mail den Code für die Tür und den Schlüsseltresor bekommen – die Rezeption ist erst ab 9 Uhr geöffnet, da bin ich schon längst unterwegs. 

Es sieht auf jeden Fall nach Sturm aus und werde heute auf jeden Fall noch heftig regnen, meint er dann.  Nach Erice hoch sei es zu gefährlich, es sei denn ich hätte Schneeketten – denn dort würde es heute sicherlich noch heftig schneien. Palermo sei doch eine gute Alternative, denn selbst wenn es regnet, gibt es genügend zu besichtigen. Aber zunächst renne ich quer über die Straße- ich habe ein winziges weißes Gefährt entdeckt, auf dessen offener Ladefläche Orangen zum Verkauf angeboten werden. Brasilia Orangen direkt von den Hängen des Ätna. Frisch gepflückt. Zuerst bewundere ich das Auto, dann probiere ich eine Orange, saftig und ungeheuer geschmacksintensiv. Ich nehme ein Kilo, bringe die Orangen ins Hotel, dann renne ich zurück, kaufe noch zwei weitere Kilo – in meinem Rucksack ist noch Platz und so köstliche Orangen werde ich in Deutschland auf keinen Fall bekommen. Also los. Zieh dich warm an. Palermo – das wird deine Feuertaufe als Autofahrerin, feuere ich mich selbst an. Nach 600 Kilometern auf sizilianischen Straßen hat mich die Art wie man hier fährt infiziert. Geschwindigkeitsbegrenzung 70 km/h ist angezeigt, aber vor mir schleicht einer mit 80km/h? Runterschalten, Blinker raus, und mit 100 Sachen vorbei. Das geht, wenn die Straße übersichtlich und die Reifen gut sind. Mit Passagieren im Auto würde ich das nicht machen, aber für mich alleine kann ich den Nervenkitzel verantworten. Die Sizilianer denken einfach beim Autofahren mit. Kein Wunder, dass sie rechts überholen, wenn jemand langsam fährt: der hält den Verkehrsfluss auf. Seitdem ich auch den Seitenstreifen benutze, wenn mir die anderen zu schnell fahren – was sie ja gerne dürfen, weil sie sich auskennen – passiert mir das nicht mehr – und was soll’s, wenn die Straße breit genug ist, können auch locker drei Autos nebeneinander in eine Richtung fahren. Gestern Abend bin ich zwei Stunden wie  ein Henker durch die Dunkelheit nach Trapani zurück gedüst. Das ging natürlich nur, weil Einheimische vor mir fuhren. Auf dem Weg nach Agrigento habe ich, mit genügend Abstand  am Vordermann klebend, tagsüber schon mal geübt, wie ich auch mit 120 km/h durch die Kurven sausen kann. Wen interessieren  Geschwindigkeitsbeschränkungen, wenn man doch selbst am besten einschätzen kann, wie schnell man die Strecke fahren kann? Das kann man Selbstbestimmtheit nennen. Selbstmörderisch scheint es denen, die auf Regeln pochen. Und es geht um die Kommunikation. Ich habe selten aufmerksamere Autofahrer als in Sizilien erlebt. Man muss nach vorne schauen beim Fahren, nicht zögern, ausführen, was man angefangen hat. Diese Regeln herrschen dann auch in Palermo: gegenseitige Rücksicht, und du musst wissen, was du wilst. Schau nach vorne, rechts und links. Was hinter dir passiert, kann dir egal sein. Der hinter dir muss nach vorne schauen. Es gibt plötzlich unangekündigten Links- vor Rechts-Regelungen. Selbstjustiz oder Pragmatismus. Oder Rücksichtsnahme, weil die anderen Autos sonst nie in die belebte Straße einbiegen könnten. Und halte ich für rechts vor links an, überlässt mir der andere Fahrer lächelnd die Vorfahrt. Auf die Vespas, die permanent wie aus dem Nichts vorbeischießen, brauche ich nicht aufzupassen. Die wissen, dass sie gegen Autos keine Chance haben und weichen aus. Nur einmal gerate ich ins Schwitzen, weil ich aus Versehen in eine gesperrte Straße mitten ins Stadtzentrum fahre. Kurzzeitg hat mich der Blick auf einen Platz  mit einem wunderschönen Renaissancebrunnen abgelenkt, nachdem ich durch beeindruckend dunkle Strassenschluchten mit hohen Häusern gefahren bin. Aber sofort fahren mir andere Autos hinterher, ich muss in der leeren Straße weiterfahren, sehe in einer vollgeparkten Seitenstraße, dass gerade eine Lücke frei wird, biege ab und quetsche mich direkt rein. Ich stehe im absoluten Parkverbot. Beide Seiten der Straße sind bis auf den letzten Zentimeter zugestellt. Ich inspiziere die Innenräume und Scheiben der anderen Wagen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie eine Anwohnerparkgenehmigung oder ähnliches haben. Was kann schlimmstenfalls passieren? Das Auto wird abgeschleppt oder ich bekommt eine Parkkralle oder nur einen Strafzettel. Ich fotografiere das Auto und die Umgebung. Ich habe keine Ahnung, wo in Palermo ich mich überhaupt befinde. Gogglemaps hat mich in die Innenstadt geleitet. Mein Flug geht am nächsten Morgen. Ist das Risiko zu hoch, hier stehen zu bleiben? Ich muss abends nach Trapani zurück. Was tut man also in Italien, diesem äußerst kommunikativen Land? Genau. Man fragt die Anwohner. Der Herr im braunen Mantel beruhigt mich, ich sei in der Via Maqueda, die direkt Innenstadt führt. Ganz in der Nähe sei auch ein Touristenbüro und mit dem Auto –  non succede niente- non ci sono problemi – es wird nichts passieren, da gibt es keine Probleme. Ich weiß nicht, was „abschleppen” heißt, jetzt muss ich mit Händen und Füßen erklären. Woher ich denn sei in Deutschland? Er zählt auf: München, Dresden, Mainz. Aus Frankfurt – non e vero – er hat zuletzt als Pizzabäcker in Niederroden, also ganz in der Nähe, gearbeitet- aber Deutsch nein, nie gelernt, alle um ihn herum haben immer Italienisch gesprochen. Er sei jetzt auch wieder Koch, ob ich nicht zum Essen kommen wolle. Wir verabreden uns in seinem Lokal – ich habe mich für den frühen Nachmittag angekündigt. Fisch will er mir zubereiten.  Er zeigt mit das Lokal im Vorbeigehen. Es ist winzig, in den linken Pfeiler eines Durchgang hineingebaut. Die Gegend ist irgendwie zwielichtig, ich werde es versuchen, denke ich, aber ob ich es überhaupt jemals wieder finde?

Im Touristenbüro hole ich mir einen Stadtplan und werde dann wegen des Autos  ebenfalls wieder beruhigt. Ich lasse es also stehen und laufe los. Über die Piazza Pretoria mit ihrem wunderschönen Brunnen mache ich einen Abstecher in die Kirche Santa Caterina, dann schlendere ich weiter über die Quattro Canti, den vier Ecken, zur Corso Vittorio Emmanuele in Richtung Cattedrale. Piazza PretoriaDetail der Quattro Canti 

Immer wieder entdecke ich wunderschöne arabisch anmutende Innenhöfe. Von der Cattedrale aus, wo der Aufgang zum Dach wegen des angekündigten Sturms gesperrt ist, will ich weiter zum Palazzo di Normanni. Die Wegweiser leiten mich falsch, als ich feststelle, dass ich erneut um den ganzen Komplex herumlaufen müsste, um einem offenen Eingang zu finden, verliere ich die Lust. Die Sonne kämpft sich immer wieder gegen die grauen Wolken durch und so bleibe ich lieber vor einem Café in der Sonne sitzen, als den Palast zu besichtigen. Außerdem lockt es mich eher zur Kirche von San Cataldo, deren orientalisches Dach immer wieder zwischen den Häuserreihen aufblitzt. San Giovanni degli Eremiti

Zwischendurch nasche ich Arancini oder süße Stückchen. Von San Giovanni degli Eremiti aus, laufe ich quer durch ein Wohnviertel, stoße dann zwischen engen Gassen auf den Markt von Ballarò. Unwillkürlich denke ich: jetzt alle Wertsachen wegstecken. Es ist ein altes Viertel, malerisch zwar, aber die Häuser sind heruntergekommen, Wäsche hängt zum Trocknen die Hauswände hinunter.  Über das Pflaster fließt Wasser, vermischt mit Gemüseabfällen vom Markt. Laut und unübersichtlich bunt ist es, überall brüllen Händler, halten ihre Waren hoch. Die Menschen, zwischen denen ich mich bewege, kaufen tatsächlich ein, wählen aus, handeln oder sind zielstrebig unterwegs. Andere Touristen entdecke ich kaum. Es ist faszinierend authentisch. Als ich mich frage, ob ich wirklich durch den nächsten dunklen Durchgang weiter will, noch tiefer in das Gewirr des Viertels hinein, stelle ich fest, dass ich vor dem Lokal stehe, wo ich mich verabredet habe. 

Der Koch hat nicht damit gerechnet, dass ich tatsächlich auftauchen werde, das merke ich sofort. Männeraugen von den Barhockern an der Theke  verfolgen mich flüchtig, als ich eintrete. Die vier Tische sind mit rotweisskarierten Tischdecken dekoriert. Außer mir sitzt noch ein weiterer Mann zum Essen an einem Tisch. Er sieht kurz auf und nickt mir zu. Als ich meine Bestellung für Fisch bestätige, sehe ich den Koch durch die Hintertür schnell im Markt verschwinden. Der Ballarò ist also seine Vorratskammer. Während ich auf’s Essen warte, beobachte ich das Kommen und Gehen der Männer an der Bar. Ich wage tatsächlich nicht, zu fotografieren. Ich komme mir vor, als wäre ich als Komparsin in eine Kulisse für einen Mafiafilm geraten. Es kommen ganz normale Marktleute herein, Rentner, Nachbarn vielleicht, aber auch elegante schlanke Männer in tiefschwarzen Anzügen, dunklen Sonnebrillen und tief ins Gesicht gezogenen Hüten, an den Fingern dicke goldene Siegelringe. Sie werden anders gegrüßt, respektvoller? Oder geht meine Fantasie mit mir durch? Sie schauen auf einen kleinen Wein oder einen Schwatz an der Theke vorbei. Oder sind es ganz andere Geschäfte, weshalb sie hier sind? Andere wiederum sehen aus wie das Klischee vom sizilianischen Killer. Mit Narben im gebräunten Gesicht, und so unnahbar, dass ich ihre Kälte von meinem Platz aus zu spüren glaube. Fasziniert würde ich mich am liebsten unsichtbar machen, um ungestörter beobachten zu können und mitzubekommen, was hier abläuft. Als ich gegessen habe, sehr gut natürlich, alles war frisch für mich zubereitet, verabschiedet sich der Koch von mir. Er nimmt mir noch das Versprechen ab, in Niederroden zu schauen, ob es die Pizzeria in der er gearbeitet hat, noch gibt. 

Ich laufe wieder die Via Quemada entlang, diesmal aber gerade aus zum Teatro Massimo. Die Straße verändert sich aus der Altstadt heraus zu einer geschäftigen Einkaufsstraße. Ich bin auf der Suche nach  einer Boutique, die die traditionellen sizilianischen Kappen in eigener Herstellung bunt und modern interpretiert. Die Betreiber sind Mitglied der Antipizzo-Organisation. Pizzo nennt sich das Schutzgeld an die Mafia. Mehrere Geschäfte haben sich zusammengeschlossen, und verweigern sich öffentlich der Zahlung. 

Weiter durch die Stadt – über die Vuccaria, ein armes aber sehr lebendiges und früher bestimmt sehr schönes Viertel, das gerade von den Kreativen entdeckt wird, laufe ich bis zum Hafen und später wieder in die Innenstadt zurück. 
Freitag Abend scheint ganz Palermo unterwegs zu sein- am liebsten würde ich bleiben- aber um acht Uhr mahnt mich die Vernunft, nach Trapani zurückzufahren. 

Auf der Rückfahrt setzt plötzlich Regen ein. Er peitscht so stark über die Autobahn, dass sich selbst die Sizilianer an die rot blinkenden elektronischen Geschwindigkeitsanzeigen halten, die vor schwierigen Wetterbedingungen warnen. 

Noch zwei Abschiedscocktails in einer Bar am Hafen, während der Regen unablässig herunterprasselt. 

Was passiert, passiert 

Mitten in der Nacht werde ich von dem heftigen Knallen eines Gewitters wach. Gewohnheitsmäßig greife ich zum Handy, um zu sehen, wie spät es ist. Das Display ist tot. Hat in der Nähe der Blitz eingeschlagen und der Strom ist ausgefallen? Ruckartig schnelle ich nach oben, suche den Lichtschalter. Das Licht geht an. Habe ich den Ladestecker nicht richtig eingesteckt – die italienischen Steckdosen sind ja etwas eng. Nein, es passt alles. Ich renne ins Bad, stecke das Ladekabel in die nächste Steckdose. Ich muss wissen, wieviel Uhr es ist. Um sieben Uhr geht mein Flugzeug und ich kann draußen vor dem Fenster in dem tosenden Sturm nicht erkennen, ob es bereits auf morgen zugeht oder noch finsterste Nacht ist. Um Mitternacht habe ich mich hingelegt, die paar Sachen sind längst im Rucksack verstaut. Ich kann also einfach los kann. Aber wieviel Uhr ist es? Wieso lädt mein Handy nicht? Ist mein Handy kaputt? Alle Tickets sind auf dem Handy. Natürlich habe ich nichts ausgedruckt. Ich muss schauen, dass ich zum Flughafen komme, irgendwie wird man doch dort nachvollziehen können, dass ich ein Ticket gebucht habe. In meinem Kopf hämmert es: das ist ein Alptraum. Das muss ein Alptraum sein. Du wirst gleich merken, dass du träumst und aufwachen. Aber ich wache nicht auf. Ich bin hellwach. Katzenwäsche im Bad und raus ins Auto. Es steht direkt an der Hoteltür. Es regnet so stark, ich laufe wie in ein Wasserbassin hinein, bin sofort tropfnass.  Gewohnheitsmäßig stöpsele ich das Ladekabel in das Cockpit ein. Nichts passiert außer der Meldung: iPhone deleted. Danke. Ich muss zum Flughafen. Ohne Googlemaps muss ich mich auf mein Gefühl verlassen, fahre Richtung Innenstadt, da muss es ja Wegweiser zum Flughafen geben. Es schüttet, dass die Scheibenwischer kaum hinterherkommen. Da entdecke ich ein Hinweisschild – es führt Richtung Hafen zurück. Als ich die Richtung nehme, sehe ich, dass die Autos am Straßenrand fast bis zu den Türklinken im Wasser stehen und bemerke, dass ich kaum noch vorankomme, so hoch steht das Wasser auf der Straße. Ich jage den Rückwärtsgang rein und fahre zurück. Es muss noch einen Weg über die Autobahn zum Flughafen geben. Ich fahre ohne Orientierung quer durch die Stadt, überfahre aus Nervosität rote Ampeln. Endlich ein Wegweiser. Ich kann problemlos auf die Autobahn auffahren. Meine Gedanken überschlagen sich. Ob ich bei dem Wetter überhaupt mit dem Flugzeug werde starten können? Plötzlich leuchtet mein Handydisplay auf. 3.29 Uhr. 3 % geladen. Erleichterung – das Handy lädt sich doch noch auf. Ich habe noch Zeit genug, kann jetzt noch ein bisschen fahren, dann kann ich wenigstens meine Flugtickets vorzeigen. Um die Batterie schneller zu laden, lasse ich googlemaps aus – ich bin ja auf der Autobahn. Bei Segesta fahre ich von der Autobahn, will auf der anderen Seite wieder in die Gegenrichtung auffahren, aber in der Baustelle, die sich an derAuffahrt befindet,  wird die Wegführung total unübersichtlich. Ich fahre wieder auf die Autobahn. Der Regen wird langsam schwächer- was mich nur irritiert: ich fahre bergaufwärts, es müsste aber doch nach unten gehen. Ich gebe Gas. Bin ich richtig? Dann lese ich das nächste Schild: Palermo. Doch noch nicht aus dem Alptraum aufgewacht. Ich schalte doch Googlemaps ein- lasse mir die Ankunftszeit am Flughafen anzeigen: 6.35 Uhr. Um sieben Uhr geht das Flugzeug. Einatmen, ausatmen, ruhig bleiben. Ich muss noch ein ganzes Stück weiterfahren, um endlich umdrehen zu können. Um 6.36 Uhr fahre ich das Auto auf den Parkplatz am Flughafen, fülle die Rückgabepapiere aus, werfe den Schlüssel bei der Autovermietung ein. Renne zur Sicherheitskontrolle, zeige mein Ticket vor. Das Handy hat 18% geladen. Bis endlich alle im Flugzeug sind, ist es kurz vor sieben. Beruhigt lasse ich mich in den Sitz fallen. Ich habe es geschafft. Ich habe noch kurz mit einer Frau den Sitz getauscht, damit sie bei ihrer Familie sitzen kann. Um mich herum spielen sich jedoch tumaltartige Szenen ab. Wie Waffen haben die Passagiere ihre prallgefüllten Rollkoffer in das kleine Flugzeug geschleppt. Nun gibt es fast Schlägereien, weil die Fächer über den Sitzen bereits alle gefüllt sind und die Leute nicht bei ihren Koffern sitzen. Bis die Stewardess auf einmal auf Italienisch in den Gang brüllt und damit alle zum Schweigen bringt: Das ist ein Flugzeug. Bis wir in Frankfurt sind, wird der Koffer auf keinen Fall gestohlen. Und endlich schafft sie es auch, dass sich nacheinander alle setzen, damit wir endlich starten können. Das ist hier immer so, die Sizilianer machen einfach alle was sie wollen, seufzt sie, als ich bei ihr einen Kaffee bestelle. Als ich mit Kreditkarte zahle und sie die Rechnung meinem Platz zuordnen will, sage ich, dass ich getauscht habe. Die Frau neben mir auch. Die anderen um uns herum auch. Es sitzt absolut niemand auf dem Platz auf dem er sein sollte. 

Man muss sie lieben, die Sizilianer. 

Im Flixbus zur Biennale

Reisen bedeutet längst nicht mehr, viel Zeit dafür aufzuwenden, zu einem Ort unterwegs zu sein. Wenn von der letzten Reise die Rede ist, geht es bei den Meisten um die Zeit, die sie an einem anderen Ort verbringen – seltener ums Hinkommen. Heutzutage steigt man hier ins Flugzeug, steigt dort aus, es sei denn, man bewegt sich auf einem Kreuzfahrtschiff. 

Reisen definiert sich als die Zeit zwischen Ankunft und Abfahrt.

 

Als ich aus Zufall entdecke, dass ein FlixBus von Frankfurt aus direkt nach Venedig fährt, geht mir diese Möglichkeit seltsamerweise nicht mehr aus dem Kopf. Ich würde es zu gerne ausprobieren, wie es ist, abends um acht Uhr am Hauptbahnhof in Frankfurt zu starten, die Nacht durchzufahren und dann früh um 9 Uhr in Venedig auszusteigen. Mich reizt die Erfahrung, mal wieder die Strecke, die hinterlegte Strecke zu spüren. Und, wenn auch wahrscheinlich nur im Halbschlaf, das Ineinanderfließen der Landschaften zu erleben, bis es am Ziel vollkommen anders aussieht. Entfernt ankommen – ein bisschen angeschlagen vielleicht, aber trotzdem relativ entspannt. Außer sich fahren zu lassen, ist ja nichts zu tun. Die Busse sollen bequem sein, habe ich gehört, und vielleicht kann ich ja sogar ein bisschen schlafen. 66 Euro Hin- und Zurück und keine Gewichtsbeschränkung für das Gepäckstück sind jetzt auch keine Argumente, die gegen diese Reise sprechen. Und zur Biennale wollte ich sowieso längst mal wieder. Das überlaufene Venedig gehört im Sommer gehört zwar nicht zu meinen Traumzielen – ich bevorzuge entspannte, eher leere Ziele und nehme dafür auch regnerisches Wetter in Kauf –  aber wenigstens nachts ist die Stadt bestimmt einigermaßen leer. Ich buche die Fahrt und ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs von Mestre. 

Im Flixbus zur Biennale, könnte das nicht sogar ein Romantitel sein?

Mittwoch Abend ist der Bus kaum gefüllt. Ich bekomme zwei freie Plätze nebeneinander auf denen ich mich ausbreiten kann. Die ergonomische Form der Sitze verhindert jedoch, dass ich es mir  platzübergreifenden bequem machen kann. Nach Ulm verlassen wir die Autobahn und überqueren die Alpen auf Passstraßen, auf denen ich in jeder Kurve mitschwinge. 

Morgens um 3 Uhr Halt an einer Raststätte im Stubaital. Herbstkälte kriecht von den Bergen. Der Mc Donalds hat längst geschlossen. In der Autobahnraststätte könnte ich CDs mit Bayerischer Blasmusik zum Oktoberfest kaufen. Um den österreichischen Toilettenbon nicht verfallen zu lassen kaufe ich eine Flasche Mineralwasser. 

Die Geräusche von draußen verändern sich während der Fahrt. Die Berge liegen hinter uns, wir sind wieder auf der Autobahn. Meine weiche Strickjacke hilft beim Dösen. 

7 Uhr Verona. Die Sonne geht rot flammend über der Autobahn auf. Ich frage mich, wann ich das letzte mal in den Sonnenaufgang gefahren bin.

An der Busstation in Verona fehlt eine offene Espressobar, trotzdem hängt schon ein typisch italienischer Geruch in der Luft. Landschaft mit Zypressen zieht vorbei – ich schlafe wieder ein. In den Straßen Mestres werde ich kurz vor dem Halt am Bahnhof wach. 

Es ist gerade mal acht Uhr am Morgen, wir sind eine ganze Stunde schneller als vorgesehen, angekommen. Obwohl ich viel zu früh bin, checke ich schon mal  im Hotel ein. Da ich erst ab Mittag aufs Zimmer kann, mache ich mich frisch und fahre ohne Gepäck mit einem Linienbus die letzten Kilometer zur Piazzale Roma in Venedig. 

Nach der langen Nacht inmitten fremder Menschen auf engem Raum widerstrebt es mir, mich in das Getümmel des rollkofferziehenden  Menschenstroms einzureihen, der sich über die neue Glasbrücke in Richtung Hauptbahnhof ergießt, von wo aus die Lista de Spagna, die Hauptstraße, ins Stadtzentrum führt. 

Ich biege vor der Brücke links zu den Wasserbushaltestellen ab, überlege welche Linie ich am besten nehme, um zu den Giardini Arsenale zukommen, den Gärten etwas außerhalb des Stadtzentrums, wo die Biennale stattfindet. Ich erwische jedoch die falsche Linie, die falsche Richtung und befinde mich auf einer Fahrt in östlicher Richtung hinter der Giudecca-Insel  um Venedig herum. 


Wie mit einem Fischernetz vom Ufer aus mitten ins Meer gezogen wirkt die Stadt. Unwirklich eingefroren in der Zeit. Sie schreitet nicht voran wie andere Städte, verändert ihre Silhouette nicht, nur die Industriekulisse Mestres wird später auf den Fotos einen Rückschluss auf das Jahr geben können, in der sie aufgenommen wurden. In der Schönheit des alten Glanzes gefangen schwebt die Serenissima, die Heitere wie Venedig auch genannt wird, auf dem Wasser. 

Spontan entschließe ich mich von der Haltestelle Fondamente Nove aus nach Burano zu fahren. Burano, das ist eine  kleine Fischerinsel hinten in der Lagune. Die 40 Minuten Fahrt mit dem Wasserbus dorthin passen nicht in eine Kurzbesichtigung mit Selfie vor/unter/auf der Rialtobrücke und/oder/ auf/über dem Markusplatz, deshalb erhoffe ich mir einen relativ ruhigen Ort. 

Die Weite der Lagune unter dem wolkenverhangener dramatisch grauen Himmel vermischt sich mit dem grüntürkisen Wasser. 

In Burano angekommen, wende ich mich gegen den Strom der anderen Besucher nach links, laufe direkt nach der Bootstankstelle in eine Straße parallel zum Kanal. Die Häuser sind wagemutig bunt gestrichen. Orangerot neben Pink, Signalrot neben Aubergine. Die unterschiedlichen Farben sollen den Fischern bei der Orientierung helfen, wenn sie vom Meer zurück kehren. Hängen die petrolfarbenen Bikinis tatsächlich zum Trocknen an der blauen Hauswand oder sind sie eine absichtliche  Inszenierung? Es ist alles so schön bunt hier….Die Gassen füllen sich mittlerweile mit Tagestouristen. Ein asiatisches Brautpaar posiert, gut ausgeleuchtet und von einem ganzen Stab an Helfern begleitet, auf einer Brücke. Später sehe ich die Gruppe wieder. Das Brauptpaar posiert nun in Abengarderobe vor dem Sonnenuntergang. Sicherlich tolle Fotos für das Album von den Flitterwochen in Venedig. Aber verbringen sie tatsächlich auch eine tolle Zeit, bekommen sie irgendetwas von der Stadt mit? Ich beneide die beiden nicht. 

Burano wirkt. Die Farbigkeit der Häuser scheint meine Endorphinausschüttung anzuregen. Vielleicht ist es ja auch die Sonne, die mittlerweile immer wieder aufblitzt, oder der unwahrscheinlich schiefe Kirchturm- 


-ich kann gar nicht anders, als immer fröhlicher zu werden. 

Im Verkaufsraum eines Glasbläsers, bei dem ich während eines Platzregens Zuflucht suche, lasse ich mir nach portugiesischen Vorbild eine kleine schwarze Schwalbe blasen. Ein wunderschönes Unikat für gerade mal 12 Euro. 

In der Osteria nebenan stärke ich mich mit hausgemachten Tagliatelle, die in Nero die Sepia, schwarzer Tintenfischsosse, schwimmen, frisch gefangen wie mir versichert wird, und dazu den prickelnden roten Hauswein.

Auf dem Rückweg gerate ich in der wunderschönen kleinen Boutique fast in einen Shoppingrausch. Hier gibt es noch handgearbeitete Sitzenprodukte, für die Burano früher bekannt war. Ich lasse mich zu einem spitzenbesetzten Kissen und einer Ledertasche hinreißen und esse natürlich vor der Abfahrt noch ein Eis. 

Wieder in Venedig schlendere ich durch das Canareggio Viertel langsam Richtung Bahnhof. Aus Zufall finde ich hinter einem säulengesäumten Innenhof eine kleine Bar  mit einem auf den Canal hinaus hängenden Balkon. Ein roten Sprizz mit grüner Olive. Das Wasser unter mir wiegt sich sanft, mein Blick schweift den Kanal entlang, der unter der nächsten Brücke ins offene Meer mündet. Stechmücken laben sich an meinem Blut. Ab und an fährt ein Motorboot mit Touristen unter mir vorbei – Romantik pur – und das mitten in Venedig. Der Palazzo in dem sich die Bar befindet ist zu einem Hotel umgebaut- vielleicht eine Adresse für den nächsten Aufenthalt. Bis ich nach Mestre zurückkehre ist es fast Mitternacht. 

Der größte Fehler, den man in Venedig begehen kann, ist zu glauben, dass man vom Bahnhof aus die paar Schritte zur Wasserbusstation läuft, direkt in den Wasserbus einsteigt und dann entspannt den Canale Grande entlang, inmitten der schönsten Kulisse Venedigs, bis zu den Guardini Arsenale fährt. Was nachts nach einer guten Idee aussieht, entpuppt sich tagsüber als Alptraum. Anstatt schnell ein Boot besteigen zu können, findet man sich in einem Pulk hauptsächlich englisch oder chinesisch sprechender Menschen wieder, die mit riesigen Schrankkoffern bewaffnet, erst die Ticketstation und dann die Schranken auf den Bootssteg hinaus stürmen. Dabei beschweren sie sich laut über die Venezianer, die mit ihrer Venezia Card einen eigenen Bootszugang haben, manche versuchen sogar über die Absperrungen in den bevorzugten  Zugangsbereich zu kommen. Laut “Go on, go on, don’t stop” rufend drückt uns eine blau uniformiere Angestellte der Wasserbusgesellschaft auf das Boot. Jeder versucht, irgendwie auf das Freideck zu kommen, es wird gerempelt und getreten. Wie durch ein Wunder verteidigt eine Instagram-Queen ihren Platz an der Reeling. Lila Lippen, blau verspiegelte Brille, ein weiß gepunkteten Kleidchen, ein weiße Plastiktüte am Arm. Ein rosefarbenes Band umspielt den Selfie-Stick. Beim Halt an der Rialtobrücke werden ihre Posen schneller, neue Accessoires geschickt aus der Plastiktüte gefischt und mich wundert, dass sie die blonde Frau neben sich nicht wegdrängt. Sie passt ja so gar nicht ins Bild. 

Entlang des Kanals schieben sich Menschenmassen und im Vorbeifahren bekomme ich Angst, dass sich die Selfie-Sticks irgendwann verhaken und es zu einer Massenkarambolage mit Wassergang kommt. Aber Baden im Kanal ist verboten. 

Bis wir an der Haltestelle Gardini Biennale ankommen, hat sich das Boot längst geleert,  nur wenige Menschen steigen aus und laufen in den Park, die Giardini, die Gärten. Der Ort strahlt Ruhe aus. Als ich mich auf eine Bank setze wird mir bewusst, wie still und langsam diese Stadt durch das Fehlen des Straßenverkehrs ist. Es sind ja sogar Fahrräder verboten. 


Hinter den Kassen hat sich das Publikum dann vollkommen gewandelt. Anstatt des internationalen Einheitslooks (kurze Hose, Sandalen, Shirts und Flipflops) bin ich plötzlich in einer sich intellektuell gebenden Welt unterwegs. Interessiert nicht nur an Kunst, sondern auch daran, sich durch Kleidung auszudrücken. Ich freue mich über dunkelrot gefärbte Haare, dicke bunte Nerdbrillen und hohe Plateauschuhe. Zwar auch Stereotype aber ästhetischer als das, was die Innenstadt bevölkert,  durchgestylte Fotoqueens nicht ausgenommen. Die Biennale ermöglicht künstlerisch von Land zu Land reisen, die einzelnen Pavillons befinden sich in fest installierte, von den jeweilgen Ländern entworfene Bauten. 

Die Fotografien in Belgien überraschen mich und die russische Gesamtperformance überwältigt mich – danach genau richtig, die Lichtinstallationen in Dänemark. Die Faustperformance im Deutschen Pavillon ist bereits vorbei, ich schlittere über den dicken Glasboden, der den Raum teilt, wie über eine seifige Eisschicht. 

Als die Gärten um 18 Uhr schließen, habe ich überhaupt keine Lust auf Venedig. Anstattdedden fahre ich rüber zum Lido. Auf der Flaniermeile, die in gerader Linie zum Strand führt herrscht gelöste Nachsaisonstimmung. Freitag Abend, die Restaurants und Bars sitzen voll. Es ist noch nicht zu kühl, um abends draußen zu sitzen, obwohl der Kellner meint: fintite l’estate. Der Sommer ist vorbei. Man sieht’s: mitten im September tragen die ersten Damen schon Pelz. Wie entspannt es hier ist – die Saison fast gelaufen, aber am fein gerechten Sandstrand stehen die verpackten Sonnenschirme noch in Reih’ und Glied. Mir fällt auf, dass um mich herum nur Italienisch gesprochen wird. Urlaubsfeeling.Die Boote fahren zum Glück die ganze Nacht nach Venedig zurück und so komme ich zu noch zu meinem Bummel über den nächtlichen Markusplatz. Ohne den Platz gesehen zu haben, würde mir etwas fehlen. Und wie immer wundere ich mich über die Unbekümmertheit mit der laute und schlecht gekleidete Urlauber die wunderschönen alten Bars mit ihren eleganten Obern entzaubern.

Der letzte Tag bricht an. Das Gepäck nehme ich diesmal mit und gebe es zur Aufbewahrung bis zur Abfahrt am Abend in einem kleine Büro an der Piazzale Roma ab. Mein Plan besteht darin, quer durchs Ghetto zu den Arsenale zu laufen, dem zweiten Spielort  der Biennale, der sich in ehemaligen Werftanlagen befindet. Diesmal führt kein Weg an der Lista de Spagna, der Einfallstraße in die Innenstand, die mit Veneziamaskenständen und unzähligen Touristen verstopft ist, vorbei. Aber dann biege ich nach der ersten Kanalbrücke links ab, verschwinde in einem unscheinbaren niedrigen Sottopassagio und befinde mich in einer anderen Welt. 

Ruhig ist es hier zwischen den hohen Häusern. Es ist ja auch Sabbat. 

Kreuz und quer laufe ich, verliere zwischendurch die Orientierung – Google kann mich in den engen Gassen nicht mehr orten. Manche sind so schmal, dass ich mit meinen Schultern fast die Wände berühre. 


Ich entdecke winzige Gärten, stehe urplötzlich vor dem Länderpavillon der Ukraine – der  Weg hinter der Haustür führt durch ein weinbewachsenes Spalier in einen großen Raum, der in einen Nebenraum  mit sakral geschwungene Fensterbögen mündet. Ein passender Rahmen für die ausgestellten Fotografien.

 Danach treibe ich weiter, muss meine Entdeckertour aber leider abbrechen, um es noch noch zur Biennale zu schaffen. Schließlich lande ich erstaunlich schnell wieder am Hauptplatz des Viertels, wo sich gerade Familien zum gemeinsamen Essen einfinden. 

Venedig ist hier so ganz anders als auf den Postkarten. 

Endlich angekommen, das letzte Stück fahre ich dann doch noch im Wasserbus, verliebe ich mich auf den ersten Blick in das Areal mit seinen backsteinernen  Industriebauten, die erst direkt am Meer entlangführen und dann großzügig um ein Kanalbecken herum angeordnet sind.


Der jordanische Pavillon, den ich eigentlich auslassen wollte, fängt mich mit seiner hypnotisierende Performance ein. Einer Mediation auf die Einheit der Menschen und die Einheit durch den Hunger nach Geld und Krieg. Daneben, im übernational bestückten Hyperpavillon, wird überwiegend digitale und Konzeptkunst ausgestellt. 

Ein kostenloser Bootsshuttle bringt mich auf die andere Uferseite. Dort befinden sich der offizielle Eingang und die Hauptpavillons. 

An der Kasse steht ein engelsgleiches Geschöpf – lange rotblonden Locken und lagunenfarbenen Augen – auch wenn Angela es sicherlich schon hundertmal gehört hat – artig bedankt sie sich dafür, dass ich sie mit Botticellis Venus vergleiche. 

Die überdimensionierten Fabrikhallen gehen eine einmalige Symbiose mit der modernen Kunst ein. 

Den hochgelobten italienischen Pavillon finde ich zunächst gar nicht spannend. Das  Konzept, Stein die Luft zu entziehen, überzeugt mich zunächst nicht. Die verkrüppelten Skulpturen, die hinter den Lochfoliengängen auf einfachen Tischen liegen, wirken trotzdem bis heute nach.


Bunte hoch an der Wand aufgetürmte Wollpompons, eine Installation aus Kassetten, die Geschichte Tahitis von einer Neuseeländerin überdimensional auf breite Leinwand digitalisiert, Arbeit mit bunten Fadenrollen  – der Rest des Nachmittags verfliegt nur so in den riesigen Hallen. Den Park mit den Skulpuren schaffe ich aufgrund der fehlenden Zeiz nicht mehr. 

Obwohl der Kuratorin der Biennale Christine Macel  mit ihrem Konzept, den Haupträumen verschiedene Kapitel zuzuordnen, von Kritikern Belanglosigkeit vorgeworfen wird, bereue ich es nicht, zur Biennale gereist zu sein. 

Viel Performance, viel Monumentalkunst. Einige Werke prägen sich mir nachhaltig ein oder haben zum Herumalbern verleitet, wie die riesigen bunten Wollpompons, vor denen ich nicht als einzige so tue, als ob ich mich verbotenerweise hineinfallen lasssen würde. 

Ein riesiges Kreuzfahrtschiff schiebt sich zum Abschied am Horizont in die Bucht, als ich mich auf dem Rückweg mache. Fast unanständig riesig taucht es still und lauernd auf, scheint es die Stadt verschlucken und wegdrücken zu wollen.  Für mich ein Sinnbild, was durch den Tourismus mit dieser wunderbaren Stadt geschieht.

Noch ein letzter Capucchino, ein paar Tramezzini für die Fahrt.  Ich bin schon spät dran, als ich meine Reisetasche aus dem Schließfach hole und mit dem Personenmover zur Haltestelle Tronchetto fahre. Abfahrtszeit 20 Uhr. Der Bus wird sofort voll – auf der Rückfahrt nach Frankfurt bleibt kein einziger Sitzplatz leer. Ich schlafe im Schalensitz festgehalten, während wir die Alpen passieren. In Mannheim unterhalte ich mich bei einem Stopp mit dem Busfahrer: mitten in der Nacht hätte ein Hirsch auf der Straße gestanden und er eine Vollbremsung hingelegt. Er freut sich, dass ich überhaupt nichts davon mitbekommen habe. Um 9 Uhr bin ich Sonntag morgen wieder in Frankfurt. Würde ich so eine Reise wieder unternehmen? Warum nicht.

Eines steht fest: in zwei Jahren bin ich wieder bei der Biennale. 

Viva Arte Viva

Viva Venezia Viva

Ci vediamo

Dem Spaziergang durch das ehemalige jüdische Ghetto widme ich noch einen eigenen Bericht. 

Hack au vin

Wenn man als Single Lust auf Spaghetti Bolognese hat, lädt man am besten einen Freund zum Essen ein, denn für ein schnelles Singleessen dauert zu Zubereitung viel zu lange: eine gute Bolognesesoße sollte nämlich mindestens zwei Stunden vor sich hinköcheln. Blöderweise habe ich mich auf die eisernen Reserven in meiner Vorratsschublade verlassen und bin im Vertrauen darauf, dass sich dort mindestens eine Dose passierte Tomaten befindet zum Einkaufen von Bio-Hackfleisch gegangen. Was dann rauskam, war sehr lecker, wurde aber der unterscheidbarkeithalber ein “Hack au vin” (Danke dafür an Barbara H.) 😉.

Zutaten

  • 500 Gramm Rinderhackfleisch (bio)
  • 1 grosse Gemüsezwiebel
  • 2 Zehen Knoblauch
  • 8 Minitomaten vom Balkon
  • 3 Karotten
  • Tomatenmark aus der Tube
  • 2 Lorbeerblätter
  • 1/2 Liter Rotwein
  • Olivenöl

Gewürze
Salz, grober Pfeffer, Thymian, Oregano, Rosmarin, Basilikum

Zubereitung

Die Zwiebeln und den Knoblauch fein schneiden.
Die Karotten waschen und in feine Stücke schneiden.

Erst Olivenöl erhitzen, dann erst die Zwiebeln, später noch den Knoblauch goldgelb anbraten.

Danach das Hackfleisch zugeben und scharf abraten , Tomatenmark dazugeben und mit Rotwein ablöschen.

Die geschnittenen Karotten und die paar halbreifen (vom Balkon geholten) Tomaten dazugeben, Salz, Pfeffer, die Lorbeerblätter auch noch hinzu und köcheln lassen.

Immer wieder mit den Italo-Standards abschmecken: Thymian, Rosmarin, Oregano + Basilikum  und wenn die Masse einkocht, immer wieder mit Rowein nachgießen bis nach 40 Minuten der Besuch kommt.

Spaghetti abkochen. Die Lorbeerblätter aus Fleischsoße holen und diese über die Spaghetti geben. Darüber kommt dann frisch geriebener Parmesan und grober Pfeffer. Voilà! 🍝

 

 

Last minute documenta 14. Noch schnell nach Kassel.

Lange ist nicht mehr Zeit, die Documenta 14 in Kassel zu besuchen. Die Kunstmagazine, die sich mit der aktuellen Weltkunstausstellung beschäftigen, sind bereits massiv im Preis reduziert. http://shop.art-magazin.de/kennenlern-angebot-art-zum-halben-preis-1.html

Noch knapp zehn Tage, dann wird der Parthenon der (verbotenen) Bücher abgebaut, die Stadt wieder in der nodrhessischen Provinz dahindösen, vielleicht aufgeschreckt durch Schlagzeilen von Vorkommnissen in Internetcafés oder der miserablen Auslastung des Flughafens Calden. Und Achtung: immer im Bewusstsein: der festinstallierte Blitzer auf der Autobahn am Kasseler Berg.
Und man kommt günstig hin: die Deutsche Bahn bietet gerade Tickets für die einfache Fahrt ab Frankfurt für 9 Euro an.

Ich war bereits im Juni dort, meine Highlights: Documenta-Halle, dann über den Friedrichsplatz zu einem Belegten Brot ins Presse- und Informationszentrum -kurz auf der Dachterrasse entspannen, dann nebenan zu Leder-Meid auf eine Zeitreise in die Fünfziger Jahre zurück. In ein leeres Appartement im 3.Stock, an den Wänden großformatigen Bilder des griechischen Malers Apostolos Georgiou und aus dem Fenster ungehinderter Blick über den Platz auf den Weißen Rauch, Kassel grüßt Athen, oder grüßt Athen Kassel. Danach quer durch die Innenstadt, und sich am Ende in die Neue Neue Galerie (Neue Hauptpost) durchfragen und hinter einer typischen 70er Jahre Brutalbetonfassade im ehemaligen Briefverteilzentrum, einem fantastischen Ausstellungsraum, aktuelle Kunst um Flucht und Vertreibung herum erleben. Am Ende lege man sich erschöpft auf den rosafarbenen Flor im dritten Stock.

Treppenhaus im Presse- und Informationszentrum.

Kacheln im Appartement des Leder Meid Haus. Die Fiftys lassen grüßen.

Máret Ánne Sara.

Die Geschichte der Samen. 20m lang, 4 Jahre Handarbeit. Máret Ánne Sara.

  

Dass es Konsalik auf die Documenta gebracht hat. Parthenon der (verbotenen) Bücher.

Das Pantheon der Bücher, war bei meinem Besuch noch auf teilweise leeren Säulen gestanden.

Mit Flüchtlingen und verfolgten Völkern hatte ich bis dato kein nordeuropäisches Volk in Verbindung gebracht. Bis ich vor dem zwanzig Meter langen, in vier Jahrer langer Arbeit von Hand bestickten Tuch von Máret Ánne Sara stand, das die Geschichte und Mythologie der Samen zeigt. Die norwegische Künstlerin thematisiert  in ihren Werken das Schicksal der Samen , eines der letzten nomadischen nordeuropäischen Völker, das von der Rentierzucht lebt. Beeindruckend der Vorhang aus Rentierschädeln, die alle von ihr selbst gesäubert wurden. Welch wunderschöne Werke aus der Tragödie dieses Volkes entstanden sind.

Wie wunderschön die vor der Küste Italiens gestrandeten, gebrochen und zerschundenen zu multifunktionalem Musikinstrument umgebauten Flüchtlingsboote klingen mögen, wenn sie in der Documentahalle bespielt werden dürften. Ich habe empörte Besucher erlebt, die das als Überschreiten der Grenze von Kunst erlebt haben.

Darf Kunst alles? Muss Kunst Alles?  Was ist das überhaupt, Geschmack? Darf das Zeigen von Verfolgung, Flucht und Elend, Unterwerfung, Zerstören und Tod an sich <<schön>> sein?