Auf eine Carbonara in Milazzo

Meine ersten italienischen Worte habe ich im Urlaub an der Adria gelernt: “Un gelato, prego!” Ein essentiell wichtiger Satz für eine Fünfjährige.

Mein Vater hat uns drei Kindern sofort nach der Ankuft am Urlaubsort ein paar  100 Lire Münzen in die Hand gedrückt. Offiziell wollte er unseres Selbständigkeit fördern, aber wahrscheinlich haben wir unsere Eltern nur beim Einräumen gestört. Jedes Jahr ging es im vollbepackten Auto nach Italien und jedes Jahr lief nach der Ankunft das gleiche Drama ab: das Appartement entsprach nicht den Fotos im Prospekt, irgendetwas war immer kaputt und meine Mutter hat unter Tränen erstmal die gesamte Wohnung geputzt. Mit mitgebrachtem Putzmittel natürlich. Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte wurden es letztendlich immer wunderbare Ferien – und im Jahr darauf ging’s im  Urlaub natürlich wieder nach Italien.

Es müssen allerdings noch ein paar Worte mehr gewesen sein, die ich damals gelernt habe. Ich erinnere mich an Diaabende, bei denen es von diesem ersten Urlaub Fotos von mir am Strand, zusammen mit einem Ehepaar aus Turin, zu sehen gab. Ausgerüstet mit einer Schaufel und einem  roten Eimer strahle ich zwischen den Beiden in die Kamera. Zu dritt waren wir den ganzen Urlaub über immer wieder stundenlang unterwegs – meistens haben wir Miesmuscheln an den Felsen abgekratzt. Und ich erinnere mich noch genau: ich habe die Muscheln auch roh probiert. Sie müssen mir etwas Italienisch beigebracht haben – mit meinen Eltern sprachen sie jedenfalls Englisch. Im Kindergarten haben wir damals gelernt, wie wir uns Schuhe zubinden, aber Englisch noch nicht. Meine Eltern fuhren wahrscheinlich auch deshalb so gerne in den Urlaub nach Italien, weil sie sich am Strand nicht um uns kümmern mussten: irgendeine benachbarte kinderreiche italienische Familien hat uns sofort adoptiert. Die haben dann selbstverständlich auf uns aufgepasst.

Weshalb ich heute daran denke? Gerade bin ich zum ersten Mal dabei, „richtig” Italienisch zu lernen. Das hessische Bildungsurlaubsgesetz (so ein Wort kann es nur in Deutschland geben ☺️) macht es möglich, dass ich dieses Jahr zwei Wochen bezahlten Urlaub an einer Sprachschule machen kann. Chiara, die Lehrerin, bei der ich nachmittags Einzelunterricht habe, vermutet, dass ich wegen meines guten Akzents wohl bereits sehr früh Italienisch gesprochen haben muss. Da habe ich ihr von diesen ersten Urlauben und auch von den letzten zusammen mit den Eltern in Italien erzählt. Ganz gegen die Gewohnheit meiner Eltern immer andere Orte anzusteuern, haben wir drei Jahre hintereinander den gesamten August im Haus eines italienischen Freundes im Cilento verbracht. Damals war das noch Abenteuer pur. 18 Stunden waren wir im Auto zu dem kleinen Urlaubsort unterwegs, der vor allem bei Familien aus dem nahen Neapel beliebt war. Als grünäugige Fünfzehjährige mit langen dunkelblonden Haaren musste ich mir schnell einen gewissen Wortschatz zulegen, um den neapolitanischen Jungs auf ihren Vespas Paroli geben zu können. Aber auch als  meine Haare auf Kinnlänge gekürzt waren, tat das dem Erfolg auf der Passegiata, dem abendliche Spaziergang am Lungomare, keinen Abbruch. Meine neapolitanischen Freundinnen haben sich daraufhin sogar spontan ebenfalls die Haare abgeschnitten. (Ja, richtig gelesen: sie haben sich gegenseitig mit einer Haushaltsschere die Haare abgeschnitten😎).

In der Schule habe ich ganz klassisch Latein, Französich und so später Englisch gelernt. Aber Italienisch? In einen Kurs zu gehen hat für mich nie zu dieser Sprache gepasst. Das Selbststudium aus Büchern habe ich versucht, aber entnervt wieder abgebrochen. Italienisch ist doch keine Sprache, die man paukt sondern viel mehr  ein  Lebensgefühl!

Durch die Kombination mit Latein und Französisch kann ich fast jeden Text verstehen und irgendwie hat sich über die Jahre auch das Hörverständniss erhalten. Seit ein paar Jahren zieht es mich auch wieder regelmäßig nach Italien. Ich rede mit jedem ohne jegliche Fesseln von Grammatikregeln, „all intuito”, intuitiv also. Notfalls auch mit Händen und Füßen. So wie ich es mir abgehört habe. Bei meinem letzten Venedigbesuch habe ich allerdings kleine Stiche gespürt, als mir ständig auf englisch geantwortet wurde.

Jetzt drücke ich also in Milazzo noch einmal für zwei Wochen die Schulbank. Italienisch auf Sizilien. Jetzt wird der eine oder andere sagen: da sprechen Sie doch überhaupt kein richtiges Italienisch. Doch, sie sprechen Italienisch, aber die Alten eben auch noch Sizilianisch. Und ich weiß nicht weshalb, ich mag die Menschen in Süditalien einfach sehr. Wenn einer Neapolitanisch spricht, geht mir das Herz auf. Mir kommen die Menschen irgendwie kommunikativer, eine Spur herzlicher und vor allem liebenswert eigensinnig vor. Im Süden, so ungefähr ab Neapel, fühle ich mich richtig wohl.

Wir sind in einer Schüler-WG, die sich im selben Haus wie die Sprachschule Laboling befindet, untergebracht. Außer mir wohnen noch ein weiterer Deutscher, ein Österreicher, ein Russe, ein Ire und eine Japanerin hier. Umgangssprache ist natürlich Italienisch:

Wer weiß, was da sonst noch so auf dem Post-It steht. Grazie Mille an Rie. 

Im November besuchen vor allem Teilnehmer die Sprachkurse, die Studium und Schule längst hinter sich gebracht haben. Mit Axel, meinem österreichischen Mitschüler, habe ich unlängst darüber gelacht, dass wir wahrscheinlich eine Art Senioren-Unterricht bekommen. Weshalb können wir uns eigentlich nicht merken, dass für „in + Stadt” im Italienischen immer „a” genommen wird, und wie war das, wann benutzt man  Imperfetto und wann Passato Prossimo🙈?

In unserem Appartement gibt es eine zweckmäßige Gemeinschaftsküche. Jeder kocht meistens für sich alleine. Die Speisen, die wir zubereiten, verraten unsere Herkunftsländer: Rie macht sich dünne Suppen, viel Fisch, allerdings nicht roh, sondern in der Pfanne gebraten und das dann mit Unmengen an Knoblauch. Daniel aus Irland dagegen, köchelt sich braunes Stew zusammen, das er sich dann notfalls auch kalt auf’s Panino schmiert. Gestern war ich zusammen mit Rie zum Einkaufen von Vino Sfuso unterwegs. Vino Sfuso ist offener Wein, den man vor dem Kauf verköstigen kann. In einem kleinen Lebensmittelladen sind wir schließlich fündig geworden. Beim Blick in die Theke kam ich auf die Idee, für uns beide Carbonara zu kochen. Der Guancale, Speck aus der Schweinebacke, lag einfach zu verlockend in der Auslage. Die restlichen Zutaten gab‘s dort natürlich auch. Und auch einen Liter Nero d’Avola, sizilianischen Rotwein, abgefüllt in einer Plastikflasche. 

Bei Signore Montalbano gibt es alle Köstlichkeiten Siziliens. 

Carbonara ist ein supereinfaches, ganz schnelles Rezept – genau richtig für ein Abendessen nach einem anstrengenden Tag in der Schule oder wonach auch sonst immer.

Eine gute Carbonara ist selbst in Italien im Restaurant schwer zu finden. Denn: una buona carbonara si fa a casa: gute Carbonara macht man zuhause.

Deshalb verewige ich das Rezept jetzt auf meinem Blog- es kommt schließlich nicht auf das Ambiente der Küche an: schmecken muss es!
Rie hat die Zubereitung ebenfalls fotografisch festgehalten. Dann die Frage aller Fragen: „ E quando metti la panna?” Wann machst du die Sahne hin? Sie konnte nicht glauben, dass man für eine Carbonara weder Milch noch Sahne benötigt. In Osaka gibt es, wie überall auf der Welt beim Italiener: „Spaghetti Carbonara”, und das heißt, wie eben auch fast überall auf der Welt: Spaghetti mit Sahnesoße und gekochtem Schinken. Aber das ist keine Carbonara 🇮🇹!

Das ist Carbonara 😎


Zutaten für zwei Personen:

(Zeitaufwand: keine 15 Minuten)

  • 120 Gramm Guanciale alternativ Pancetta oder durchwachsenen Speck
  • 120 Gramm frisch geriebenen Guan Cavallo alternativ Provola, Pecorino oder:  halb und halb Pecorino und Parmesan (bitte nicht aus der Tüte im Kühlregal)
  • 2 Eier
  • 250 Gramm Spaghetti oder andere Nudeln – in meinem Fall Casarecce (ausgerechnet in diesem Laden waren die Spaghetti gerade ausverkauft)

Gewürze

  • Salz
  • Ein Esslöffel Olivenöl
  • Schwarzer Pfeffer

Zubereitung:

Gesalzenes Wasser zum Kochen bringen, die Nudeln hineingeben. Angegebene Kochzeit minus zwei Minuten kochen lassen.

Währenddessen: das Fleisch in dünne Stücke schneiden und in einer Pfanne mit dem Olivenöl gut anbraten

Die Eier mit dem geriebenen Käse in einer Schüssel vermengen, gut vermischen, eventuell eine Prise Salz dazugeben.

Die Nudeln etwa zwei Minuten vor der angegebenen Kochzeit vom Herd nehmen und abseihen – in die Pfanne geben –  die Eikäsemasse dazu geben und für circa 2 – 3 Minuten gut durchrühren, dabei die Pfanne auf dem Herd lassen.

Dadurch gerinnt das Ei, der Käse schmilzt und das Ganze umschließt die Nudeln mit einer feinen, leicht körnigen cremigen Schicht. Nach Geschmack noch schwarzen Pfeffer darüber streuen.

Arianna, meine andere Italienischlehrerin, hat mir bestätigt, dass das eine “vera Carbonara” ist. Ihre Großmutter schmelzt noch eine Gemüsezwiebel zusammen mit dem Fleich. Diese Variante werde ich aber erst noch ausprobieren.

Non dimenticare: una buona carbonara si fa a casa. 

Buon Appetito!

Im Flixbus zur Biennale

Reisen bedeutet längst nicht mehr, viel Zeit dafür aufzuwenden, zu einem Ort unterwegs zu sein. Wenn von der letzten Reise die Rede ist, geht es bei den Meisten um die Zeit, die sie an einem anderen Ort verbringen – seltener ums Hinkommen. Heutzutage steigt man hier ins Flugzeug, steigt dort aus, es sei denn, man bewegt sich auf einem Kreuzfahrtschiff. 

Reisen definiert sich als die Zeit zwischen Ankunft und Abfahrt.

 

Als ich aus Zufall entdecke, dass ein FlixBus von Frankfurt aus direkt nach Venedig fährt, geht mir diese Möglichkeit seltsamerweise nicht mehr aus dem Kopf. Ich würde es zu gerne ausprobieren, wie es ist, abends um acht Uhr am Hauptbahnhof in Frankfurt zu starten, die Nacht durchzufahren und dann früh um 9 Uhr in Venedig auszusteigen. Mich reizt die Erfahrung, mal wieder die Strecke, die hinterlegte Strecke zu spüren. Und, wenn auch wahrscheinlich nur im Halbschlaf, das Ineinanderfließen der Landschaften zu erleben, bis es am Ziel vollkommen anders aussieht. Entfernt ankommen – ein bisschen angeschlagen vielleicht, aber trotzdem relativ entspannt. Außer sich fahren zu lassen, ist ja nichts zu tun. Die Busse sollen bequem sein, habe ich gehört, und vielleicht kann ich ja sogar ein bisschen schlafen. 66 Euro Hin- und Zurück und keine Gewichtsbeschränkung für das Gepäckstück sind jetzt auch keine Argumente, die gegen diese Reise sprechen. Und zur Biennale wollte ich sowieso längst mal wieder. Das überlaufene Venedig gehört im Sommer gehört zwar nicht zu meinen Traumzielen – ich bevorzuge entspannte, eher leere Ziele und nehme dafür auch regnerisches Wetter in Kauf –  aber wenigstens nachts ist die Stadt bestimmt einigermaßen leer. Ich buche die Fahrt und ein Hotel in der Nähe des Bahnhofs von Mestre. 

Im Flixbus zur Biennale, könnte das nicht sogar ein Romantitel sein?

Mittwoch Abend ist der Bus kaum gefüllt. Ich bekomme zwei freie Plätze nebeneinander auf denen ich mich ausbreiten kann. Die ergonomische Form der Sitze verhindert jedoch, dass ich es mir  platzübergreifenden bequem machen kann. Nach Ulm verlassen wir die Autobahn und überqueren die Alpen auf Passstraßen, auf denen ich in jeder Kurve mitschwinge. 

Morgens um 3 Uhr Halt an einer Raststätte im Stubaital. Herbstkälte kriecht von den Bergen. Der Mc Donalds hat längst geschlossen. In der Autobahnraststätte könnte ich CDs mit Bayerischer Blasmusik zum Oktoberfest kaufen. Um den österreichischen Toilettenbon nicht verfallen zu lassen kaufe ich eine Flasche Mineralwasser. 

Die Geräusche von draußen verändern sich während der Fahrt. Die Berge liegen hinter uns, wir sind wieder auf der Autobahn. Meine weiche Strickjacke hilft beim Dösen. 

7 Uhr Verona. Die Sonne geht rot flammend über der Autobahn auf. Ich frage mich, wann ich das letzte mal in den Sonnenaufgang gefahren bin.

An der Busstation in Verona fehlt eine offene Espressobar, trotzdem hängt schon ein typisch italienischer Geruch in der Luft. Landschaft mit Zypressen zieht vorbei – ich schlafe wieder ein. In den Straßen Mestres werde ich kurz vor dem Halt am Bahnhof wach. 

Es ist gerade mal acht Uhr am Morgen, wir sind eine ganze Stunde schneller als vorgesehen, angekommen. Obwohl ich viel zu früh bin, checke ich schon mal  im Hotel ein. Da ich erst ab Mittag aufs Zimmer kann, mache ich mich frisch und fahre ohne Gepäck mit einem Linienbus die letzten Kilometer zur Piazzale Roma in Venedig. 

Nach der langen Nacht inmitten fremder Menschen auf engem Raum widerstrebt es mir, mich in das Getümmel des rollkofferziehenden  Menschenstroms einzureihen, der sich über die neue Glasbrücke in Richtung Hauptbahnhof ergießt, von wo aus die Lista de Spagna, die Hauptstraße, ins Stadtzentrum führt. 

Ich biege vor der Brücke links zu den Wasserbushaltestellen ab, überlege welche Linie ich am besten nehme, um zu den Giardini Arsenale zukommen, den Gärten etwas außerhalb des Stadtzentrums, wo die Biennale stattfindet. Ich erwische jedoch die falsche Linie, die falsche Richtung und befinde mich auf einer Fahrt in östlicher Richtung hinter der Giudecca-Insel  um Venedig herum. 


Wie mit einem Fischernetz vom Ufer aus mitten ins Meer gezogen wirkt die Stadt. Unwirklich eingefroren in der Zeit. Sie schreitet nicht voran wie andere Städte, verändert ihre Silhouette nicht, nur die Industriekulisse Mestres wird später auf den Fotos einen Rückschluss auf das Jahr geben können, in der sie aufgenommen wurden. In der Schönheit des alten Glanzes gefangen schwebt die Serenissima, die Heitere wie Venedig auch genannt wird, auf dem Wasser. 

Spontan entschließe ich mich von der Haltestelle Fondamente Nove aus nach Burano zu fahren. Burano, das ist eine  kleine Fischerinsel hinten in der Lagune. Die 40 Minuten Fahrt mit dem Wasserbus dorthin passen nicht in eine Kurzbesichtigung mit Selfie vor/unter/auf der Rialtobrücke und/oder/ auf/über dem Markusplatz, deshalb erhoffe ich mir einen relativ ruhigen Ort. 

Die Weite der Lagune unter dem wolkenverhangener dramatisch grauen Himmel vermischt sich mit dem grüntürkisen Wasser. 

In Burano angekommen, wende ich mich gegen den Strom der anderen Besucher nach links, laufe direkt nach der Bootstankstelle in eine Straße parallel zum Kanal. Die Häuser sind wagemutig bunt gestrichen. Orangerot neben Pink, Signalrot neben Aubergine. Die unterschiedlichen Farben sollen den Fischern bei der Orientierung helfen, wenn sie vom Meer zurück kehren. Hängen die petrolfarbenen Bikinis tatsächlich zum Trocknen an der blauen Hauswand oder sind sie eine absichtliche  Inszenierung? Es ist alles so schön bunt hier….Die Gassen füllen sich mittlerweile mit Tagestouristen. Ein asiatisches Brautpaar posiert, gut ausgeleuchtet und von einem ganzen Stab an Helfern begleitet, auf einer Brücke. Später sehe ich die Gruppe wieder. Das Brauptpaar posiert nun in Abengarderobe vor dem Sonnenuntergang. Sicherlich tolle Fotos für das Album von den Flitterwochen in Venedig. Aber verbringen sie tatsächlich auch eine tolle Zeit, bekommen sie irgendetwas von der Stadt mit? Ich beneide die beiden nicht. 

Burano wirkt. Die Farbigkeit der Häuser scheint meine Endorphinausschüttung anzuregen. Vielleicht ist es ja auch die Sonne, die mittlerweile immer wieder aufblitzt, oder der unwahrscheinlich schiefe Kirchturm- 


-ich kann gar nicht anders, als immer fröhlicher zu werden. 

Im Verkaufsraum eines Glasbläsers, bei dem ich während eines Platzregens Zuflucht suche, lasse ich mir nach portugiesischen Vorbild eine kleine schwarze Schwalbe blasen. Ein wunderschönes Unikat für gerade mal 12 Euro. 

In der Osteria nebenan stärke ich mich mit hausgemachten Tagliatelle, die in Nero die Sepia, schwarzer Tintenfischsosse, schwimmen, frisch gefangen wie mir versichert wird, und dazu den prickelnden roten Hauswein.

Auf dem Rückweg gerate ich in der wunderschönen kleinen Boutique fast in einen Shoppingrausch. Hier gibt es noch handgearbeitete Sitzenprodukte, für die Burano früher bekannt war. Ich lasse mich zu einem spitzenbesetzten Kissen und einer Ledertasche hinreißen und esse natürlich vor der Abfahrt noch ein Eis. 

Wieder in Venedig schlendere ich durch das Canareggio Viertel langsam Richtung Bahnhof. Aus Zufall finde ich hinter einem säulengesäumten Innenhof eine kleine Bar  mit einem auf den Canal hinaus hängenden Balkon. Ein roten Sprizz mit grüner Olive. Das Wasser unter mir wiegt sich sanft, mein Blick schweift den Kanal entlang, der unter der nächsten Brücke ins offene Meer mündet. Stechmücken laben sich an meinem Blut. Ab und an fährt ein Motorboot mit Touristen unter mir vorbei – Romantik pur – und das mitten in Venedig. Der Palazzo in dem sich die Bar befindet ist zu einem Hotel umgebaut- vielleicht eine Adresse für den nächsten Aufenthalt. Bis ich nach Mestre zurückkehre ist es fast Mitternacht. 

Der größte Fehler, den man in Venedig begehen kann, ist zu glauben, dass man vom Bahnhof aus die paar Schritte zur Wasserbusstation läuft, direkt in den Wasserbus einsteigt und dann entspannt den Canale Grande entlang, inmitten der schönsten Kulisse Venedigs, bis zu den Guardini Arsenale fährt. Was nachts nach einer guten Idee aussieht, entpuppt sich tagsüber als Alptraum. Anstatt schnell ein Boot besteigen zu können, findet man sich in einem Pulk hauptsächlich englisch oder chinesisch sprechender Menschen wieder, die mit riesigen Schrankkoffern bewaffnet, erst die Ticketstation und dann die Schranken auf den Bootssteg hinaus stürmen. Dabei beschweren sie sich laut über die Venezianer, die mit ihrer Venezia Card einen eigenen Bootszugang haben, manche versuchen sogar über die Absperrungen in den bevorzugten  Zugangsbereich zu kommen. Laut “Go on, go on, don’t stop” rufend drückt uns eine blau uniformiere Angestellte der Wasserbusgesellschaft auf das Boot. Jeder versucht, irgendwie auf das Freideck zu kommen, es wird gerempelt und getreten. Wie durch ein Wunder verteidigt eine Instagram-Queen ihren Platz an der Reeling. Lila Lippen, blau verspiegelte Brille, ein weiß gepunkteten Kleidchen, ein weiße Plastiktüte am Arm. Ein rosefarbenes Band umspielt den Selfie-Stick. Beim Halt an der Rialtobrücke werden ihre Posen schneller, neue Accessoires geschickt aus der Plastiktüte gefischt und mich wundert, dass sie die blonde Frau neben sich nicht wegdrängt. Sie passt ja so gar nicht ins Bild. 

Entlang des Kanals schieben sich Menschenmassen und im Vorbeifahren bekomme ich Angst, dass sich die Selfie-Sticks irgendwann verhaken und es zu einer Massenkarambolage mit Wassergang kommt. Aber Baden im Kanal ist verboten. 

Bis wir an der Haltestelle Gardini Biennale ankommen, hat sich das Boot längst geleert,  nur wenige Menschen steigen aus und laufen in den Park, die Giardini, die Gärten. Der Ort strahlt Ruhe aus. Als ich mich auf eine Bank setze wird mir bewusst, wie still und langsam diese Stadt durch das Fehlen des Straßenverkehrs ist. Es sind ja sogar Fahrräder verboten. 


Hinter den Kassen hat sich das Publikum dann vollkommen gewandelt. Anstatt des internationalen Einheitslooks (kurze Hose, Sandalen, Shirts und Flipflops) bin ich plötzlich in einer sich intellektuell gebenden Welt unterwegs. Interessiert nicht nur an Kunst, sondern auch daran, sich durch Kleidung auszudrücken. Ich freue mich über dunkelrot gefärbte Haare, dicke bunte Nerdbrillen und hohe Plateauschuhe. Zwar auch Stereotype aber ästhetischer als das, was die Innenstadt bevölkert,  durchgestylte Fotoqueens nicht ausgenommen. Die Biennale ermöglicht künstlerisch von Land zu Land reisen, die einzelnen Pavillons befinden sich in fest installierte, von den jeweilgen Ländern entworfene Bauten. 

Die Fotografien in Belgien überraschen mich und die russische Gesamtperformance überwältigt mich – danach genau richtig, die Lichtinstallationen in Dänemark. Die Faustperformance im Deutschen Pavillon ist bereits vorbei, ich schlittere über den dicken Glasboden, der den Raum teilt, wie über eine seifige Eisschicht. 

Als die Gärten um 18 Uhr schließen, habe ich überhaupt keine Lust auf Venedig. Anstattdedden fahre ich rüber zum Lido. Auf der Flaniermeile, die in gerader Linie zum Strand führt herrscht gelöste Nachsaisonstimmung. Freitag Abend, die Restaurants und Bars sitzen voll. Es ist noch nicht zu kühl, um abends draußen zu sitzen, obwohl der Kellner meint: fintite l’estate. Der Sommer ist vorbei. Man sieht’s: mitten im September tragen die ersten Damen schon Pelz. Wie entspannt es hier ist – die Saison fast gelaufen, aber am fein gerechten Sandstrand stehen die verpackten Sonnenschirme noch in Reih’ und Glied. Mir fällt auf, dass um mich herum nur Italienisch gesprochen wird. Urlaubsfeeling.Die Boote fahren zum Glück die ganze Nacht nach Venedig zurück und so komme ich zu noch zu meinem Bummel über den nächtlichen Markusplatz. Ohne den Platz gesehen zu haben, würde mir etwas fehlen. Und wie immer wundere ich mich über die Unbekümmertheit mit der laute und schlecht gekleidete Urlauber die wunderschönen alten Bars mit ihren eleganten Obern entzaubern.

Der letzte Tag bricht an. Das Gepäck nehme ich diesmal mit und gebe es zur Aufbewahrung bis zur Abfahrt am Abend in einem kleine Büro an der Piazzale Roma ab. Mein Plan besteht darin, quer durchs Ghetto zu den Arsenale zu laufen, dem zweiten Spielort  der Biennale, der sich in ehemaligen Werftanlagen befindet. Diesmal führt kein Weg an der Lista de Spagna, der Einfallstraße in die Innenstand, die mit Veneziamaskenständen und unzähligen Touristen verstopft ist, vorbei. Aber dann biege ich nach der ersten Kanalbrücke links ab, verschwinde in einem unscheinbaren niedrigen Sottopassagio und befinde mich in einer anderen Welt. 

Ruhig ist es hier zwischen den hohen Häusern. Es ist ja auch Sabbat. 

Kreuz und quer laufe ich, verliere zwischendurch die Orientierung – Google kann mich in den engen Gassen nicht mehr orten. Manche sind so schmal, dass ich mit meinen Schultern fast die Wände berühre. 


Ich entdecke winzige Gärten, stehe urplötzlich vor dem Länderpavillon der Ukraine – der  Weg hinter der Haustür führt durch ein weinbewachsenes Spalier in einen großen Raum, der in einen Nebenraum  mit sakral geschwungene Fensterbögen mündet. Ein passender Rahmen für die ausgestellten Fotografien.

 Danach treibe ich weiter, muss meine Entdeckertour aber leider abbrechen, um es noch noch zur Biennale zu schaffen. Schließlich lande ich erstaunlich schnell wieder am Hauptplatz des Viertels, wo sich gerade Familien zum gemeinsamen Essen einfinden. 

Venedig ist hier so ganz anders als auf den Postkarten. 

Endlich angekommen, das letzte Stück fahre ich dann doch noch im Wasserbus, verliebe ich mich auf den ersten Blick in das Areal mit seinen backsteinernen  Industriebauten, die erst direkt am Meer entlangführen und dann großzügig um ein Kanalbecken herum angeordnet sind.


Der jordanische Pavillon, den ich eigentlich auslassen wollte, fängt mich mit seiner hypnotisierende Performance ein. Einer Mediation auf die Einheit der Menschen und die Einheit durch den Hunger nach Geld und Krieg. Daneben, im übernational bestückten Hyperpavillon, wird überwiegend digitale und Konzeptkunst ausgestellt. 

Ein kostenloser Bootsshuttle bringt mich auf die andere Uferseite. Dort befinden sich der offizielle Eingang und die Hauptpavillons. 

An der Kasse steht ein engelsgleiches Geschöpf – lange rotblonden Locken und lagunenfarbenen Augen – auch wenn Angela es sicherlich schon hundertmal gehört hat – artig bedankt sie sich dafür, dass ich sie mit Botticellis Venus vergleiche. 

Die überdimensionierten Fabrikhallen gehen eine einmalige Symbiose mit der modernen Kunst ein. 

Den hochgelobten italienischen Pavillon finde ich zunächst gar nicht spannend. Das  Konzept, Stein die Luft zu entziehen, überzeugt mich zunächst nicht. Die verkrüppelten Skulpturen, die hinter den Lochfoliengängen auf einfachen Tischen liegen, wirken trotzdem bis heute nach.


Bunte hoch an der Wand aufgetürmte Wollpompons, eine Installation aus Kassetten, die Geschichte Tahitis von einer Neuseeländerin überdimensional auf breite Leinwand digitalisiert, Arbeit mit bunten Fadenrollen  – der Rest des Nachmittags verfliegt nur so in den riesigen Hallen. Den Park mit den Skulpuren schaffe ich aufgrund der fehlenden Zeiz nicht mehr. 

Obwohl der Kuratorin der Biennale Christine Macel  mit ihrem Konzept, den Haupträumen verschiedene Kapitel zuzuordnen, von Kritikern Belanglosigkeit vorgeworfen wird, bereue ich es nicht, zur Biennale gereist zu sein. 

Viel Performance, viel Monumentalkunst. Einige Werke prägen sich mir nachhaltig ein oder haben zum Herumalbern verleitet, wie die riesigen bunten Wollpompons, vor denen ich nicht als einzige so tue, als ob ich mich verbotenerweise hineinfallen lasssen würde. 

Ein riesiges Kreuzfahrtschiff schiebt sich zum Abschied am Horizont in die Bucht, als ich mich auf dem Rückweg mache. Fast unanständig riesig taucht es still und lauernd auf, scheint es die Stadt verschlucken und wegdrücken zu wollen.  Für mich ein Sinnbild, was durch den Tourismus mit dieser wunderbaren Stadt geschieht.

Noch ein letzter Capucchino, ein paar Tramezzini für die Fahrt.  Ich bin schon spät dran, als ich meine Reisetasche aus dem Schließfach hole und mit dem Personenmover zur Haltestelle Tronchetto fahre. Abfahrtszeit 20 Uhr. Der Bus wird sofort voll – auf der Rückfahrt nach Frankfurt bleibt kein einziger Sitzplatz leer. Ich schlafe im Schalensitz festgehalten, während wir die Alpen passieren. In Mannheim unterhalte ich mich bei einem Stopp mit dem Busfahrer: mitten in der Nacht hätte ein Hirsch auf der Straße gestanden und er eine Vollbremsung hingelegt. Er freut sich, dass ich überhaupt nichts davon mitbekommen habe. Um 9 Uhr bin ich Sonntag morgen wieder in Frankfurt. Würde ich so eine Reise wieder unternehmen? Warum nicht.

Eines steht fest: in zwei Jahren bin ich wieder bei der Biennale. 

Viva Arte Viva

Viva Venezia Viva

Ci vediamo

Dem Spaziergang durch das ehemalige jüdische Ghetto widme ich noch einen eigenen Bericht.